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Der Bahnhof Zoo
oder
Das Tor in die Welt

Westberlin

 

Als die Züge ankamen, warteten an den Bahnsteigen wenig Menschen auf die aussteigenden Transitreisenden. Die 20 Pfennige für eine Bahnsteigkarte erübrigte sich, denn alle Ankommenden mussten die gleiche breite Treppe zur Empfangshalle herabsteigen. Am Fuße der Treppe, vor der Ticketkontrolle, stand eine Menge Menschen, um die Ankommenden zu begrüßen, zu umarmen, zu küssen, mit Blumen zu empfangen. Es gab auch den nicht eingeforderten, aber eingehaltenen inoffiziellen Konsens, dass die 20 Pfennige für eine Bahnsteigkarte nicht an den Osten, der den Bahnhof Zoo betrieb, gezahlt wurden.

Die Ankommenden, aus dem abgesperrten Zug befreit, drängten sich aufatmend die Treppe hinunter. Ihre Blicke schweiften über die Köpfe der Wartenden, winkten den Ihrigen zu. Hurra, sie werden abgeholt, sie werden geliebt.

Andere, die nicht erwarteten abgeholt zu werden, drängten sich, genervt, zwischen den andern hindurch, sie wollten weg von der Masse, wollten nur noch zur U-Bahn, zum Bus, nur weg von der Enge des Zuges, des Bahnhofs Zoo.

Einige blieben oben an der Treppenkante stehen. Sie schauten in die Runde unter ihnen, suchen nach denen, die sie erwarteten und fanden niemanden. Enttäuschung machte sich in ihnen breit. Trauer bei den einen, Ärger und Wut bei anderen. Manche ließen sich nicht anmerken, dass sie ungeliebt waren, nicht erwartet wurden. „Noch nie wurde ich geliebt, noch nie erwartet. Ich habe es schon immer gewusst.“

Die im Bahnhof Zoo ankommenden Züge fuhren leer weiter. Der Bahnhof war ein Endbahnhof, der keiner war.

Die aus Westdeutschland in Westberlin ankommenden Züge fuhren nun von hier aus in ein unbekanntes Nirgendwo, niemand wusste wo das liegt, irgendwo im nebulösen Osten. Von dort kamen die Züge wieder leer zurück, um dann in den Westen zu fahren. Sie rochen merkwürdig, fremdartig nach diesem Nirgendwo des Ostens.

Von hier, dem Bahnhof Zoo, fuhren die Züge nach Paris, Amsterdam, München, Köln. Die weite Welt begann hier am Bahnhof Zoo. Ob in den Westen oder von dem Westen, ob von Westberlin oder nach Westberlin, in welche Richtung auch immer, jeder Zug des Bahnhofs Zoo fuhr ohne Halt durch den Osten.

Jeder Wagon wurde bei der Einfahrt in den Osten von Ostdeutschen durchsucht. Ostdeutsche Schäferhunde liefen, von der Leine gelassen, unter den Zügen hindurch und schnüffelten nach Feinden. Steife, in grauen Uniformen mit Bauchläden ausgestattete Menschen stiegen zu. Sie klappten ihre transportablen Büros auf. Stempel, Formulare, Zolldokumente und andere staatliche Bescheinigungen kamen zum Vorschein. Jeder der Reisenden wurde kontrolliert, dessen Pass abgestempelt und für eine einmalige Durchreise legitimiert. Die Fahrkarten kontrollierte anderes Personal.

Die unausgesprochene Bedrücktheit der kontrollierten Durchreise durch den Osten spürten die Reisenden erst bei der Ankunft im Westen. Dort fiel sie ab, endlich Westdeutschland, endlich Westberlin. Nun öffnete sich die weite Welt. Die weite vielfältige Welt hinter der Mauer, die weite Welt ohne Mauern. Alle Welten der Ferne, alle Hoffnungen, alle Sehnsüchte danach mussten durch das Nadelöhr des Westberliner Bahnhof Zoo.

Plötzlich, ohne große Ankündigung, ohne Abschiedszeremonie, nicht mehr gebraucht, wurde er zu einem einfachen Regionalbahnhof degradiert.

Heute, viele Jahre später: Ab und an, wenn ein Gespräch den Bahnhof Zoo am Rande streift, gibt es ältere Damen und ältere Herren, die glänzende Augen bekommen : „Oh es war einmal......“