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muDas Meer in der Muschel

oder

Die Erkenntnis, die in einer Muschel lag

 

Gerhard A. aus dem vom Meer entfernten Allgäu wollte zur Marine. Am liebsten als U-Bootfahrer zum Militär.'

Seine Mutter Mechthild legte ihm schon als Säugling eine große rosa-farbige Muschel an das Ohr, um ihn das Meer hören zu lassen. Wenn Kinder, die am Meer aufwachsen, ununterbrochen das immer rauschende Meer hören, dachte sie, wird es dem Kind hier auch nicht schaden. Die Muschel war der Aufbewahrungsort des Rauschens des Meers. Ihr Kind sollte einen erweiterten Erlebnishorizont bekommen, mehr als andere Kinder, die nur das Rauschen der Bäume, das Schnattern der Gänse, das allgegenwärtige Muhen der Kühe, wie auch das freudlose Murren der Männer zu hören bekommen.
Die ersten Worte, die Gerhard A. hörte, waren Worte wie Horizont, Gischt, Schiffe, Sand, Worte, die mit dem Meer zusammenhingen.

Seine Mutter war nie am Meer gewesen, sah das Meer ihr langes Leben nicht, starb ohne je das Meer gesehen zu haben. Sie las in ihrem arbeitsvollen Leben wenig, dazu war kein Raum, keine Zeit. Sie hatte ihre Muschel mit dem Rauschen des Meeres und hörte bei Anderen, die vom Meer erzählten, genau zu. Das Buch, das sie einmal geschenkt bekam „Die Geschichte der See“, legte sie in die unterste Schublade des Wohnzimmerschrankes. Es war ihr genauso heilig wie die Bibel, die sie auch nie las. Heilige Bücher soll man nicht lesen, wusste sie, denn das Lesen, das Wissen, entheiligt schnell.
Sie lehrte ihr Kind, dass ein Meer im Süden, hinter den Bergen liegt - das Mittelmeer, dass man ganz weit im Norden, nach der Durchquerung von Tiefebenen, das Nordmeer findet, aber auch im Westen an einem fernen Land ein Meer existiert, wie ganz weit im Osten hinter China ein Ostmeer sich erstreckt.

Als Gerhard A. die von seinem Vater erzwungene Arbeit als Heizer in einer Dampfmühle aufhörte, da er zum Militär einberufen wurde, meldete er sich freiwillig zur Marine. Er fuhr bis nach Bremerhaven, um dort gemustert zu werden. Bei der flüchtigen Musterung wurde sein ausgeprägter Adamsapfel als Kropf gedeutet. Der preußische Militärarzt war der Meinung, dass alle Menschen der Voralpen einen Kropf hätten. Er wusste das aus eigener Erfahrung, aus einem Urlaub in Obersdorf.

Gerhard A. widersprach dem Arzt nicht. Er wurde von der Marine ausgemustert und später dem Heer zugewiesen. Er erlitt den zweiten Weltkrieg, den er hasste, an der Ostfront und kehrte körperlich unversehrt wieder nach Hause zurück. Wahrscheinlich rettete ihm sein fehlinterpretierter Kehlkopf sein Leben.

Als seine Mutter starb, kam das Meer in der Muschel zu ihm. Es wanderte in eine Kiste, die altes Gerümpel beherbergte. Er glaubte nicht an solche Geschichten wie die vom Meer in einer Muschel.

Eines Tages entdeckte sein kleiner Sohn die Muschel und erklärte dem Vater, dass das Rauschen in der Muschel das Rauschen des Meeres sei. Der Vater widersprach und erklärte seinem Sohn, dass das, was man höre die Umweltgeräusche sind, die sich in der Muschel verfangen und gehört werden. Daraufhin erklärte ihm sein Sohn, dass das schon sein könne, was der Vater sagte, aber hinter dem Geräusch der Umwelt, das der Vater höre, wäre das Meer zu hören. Das Meer sei überdeckt von den ganzen lauten Geräuschen der Umgebung. Der Vater solle ganz genau hinhören, hinter das was er höre hören, dort sei das Meer, das in der Muschel aufbewahrt sei.

Sein Vater hielt sich die Muschel wieder an das Ohr, hörte und erklärte seinem Sohn, dass es so nicht sei. Er höre da nicht das Meer. Da wusste sein Sohn, dass sein Vater nicht zu den Hörenden gehörte, dass er nie das hören könne, was er höre. Er wurde skeptisch. Und nun fragte er sich, ob er denn je auf jemanden, der nicht hören könne, hören solle?