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floete

 

Vom Flüchtigen
oder
Das Fluidum eines Klangs

Manchmal, wenn der Winter zur Neige geht, unterbreche ich meine alltägliche Geschäftigkeit und stelle mich an eine Hauswand, um die Sonne, die nun täglich höher steigt und intensiver wird, zu genießen, um mich an ihr zu erwärmen.

In diesen Momenten stelle ich mir vor, wie gerade jetzt ein Bündel Strahlen die Sonne verlässt. Ich schaue auf die Uhr. In 8 Minuten ist die wärmende Strahlung bei mir auf der Erde an der Hauswand angekommen. 150 Millionen Kilometer hat sie in der kurzen Zeit zurückgelegt. Alles Leben meines Planeten ist auf die 8 Minuten angewiesen. Wieder und wieder schaue ich auf die Uhr, vor acht Minuten . . . in acht Minuten . . .

Ich weiß nicht, was mich in diesem Moment mehr begeistert, das Wissen um die Strahlung, der lange Weg der Wärme, die Eruption der Sonne, das Wissen um dies Wunder, oder die Haut, die die Strahlung absorbiert. Die Haut, die seit Millionen von Jahren das Leben vor den weit gereisten Strahlen schützt, wie auch das Leben erst durch diese Strahlung ermöglicht wird.
Das so weit Entfernte geht mir unter die Haut. Unglaublich fern und doch unglaublich nah. Gibt es etwas Näheres und zugleich Unerreichbareres als die Sonne?

Während mich die Sonne an der Wand erwärmt, denke ich an den Klang. Auch dessen Quelle ist unerreichbar und doch allgegenwärtig. Der Klang einer Stimme, der Ton einer Geige ist, wenn er mein Ohr erreicht hat, schon vergangen, für immer unwiederbringlich aufgelöst. Kaum seiner Entstehung entwischt, verschwindet er ins Unhörbare. Wenn jemand spricht, legt dessen Stimme einen Weg zu meinem Ohr zurück. Die Stimme war, was ich höre ist das Gewesene. Was mich mit dem Sprechenden verbindet ist das, was er sagte, bevor ich es hörte. Es kann ein Geschimpfe sein, was mich bedrückt, es kann ein Liebesgeflüster sein, was mich beglückt. Es ist dies, was mich mit ihm, dem Anderen, vereint.

Was wissen wir von Menschen, die vor 40.000 Jahren lebten? Wir finden Feuerstellen und Speisereste und denken uns, wie sie wohl lebten. Wir finden geformte Figuren aus Stein oder Ton, einmal dick, ein andermal dünn, bestimmen ihr Alter und nennen sie Venus. Wir finden Werkzeuge und denken uns, wozu sie verwendet wurden. Wir finden Unerklärliches und deuten dies als religiöse Artefakte.

Wir finden in einer Höhle eine Flöte, gefertigt vor 40.000 Jahren* aus einem Knochen eines Geiers. Wir wissen nichts über den Schnitzer, wissen nicht, wie die Flöte gespielt wurde. Gab es Melodien, gab es einen Rhythmus, wurde still dem Klang der Flöte zugehört oder wurde dazu getanzt und gesungen, wir wissen es nicht. Wir können aber auf ihr spielen, und hören ihren Klang, den Ton der Flöte. Die gleichen Schwingungen von damals wie die von heute. Derselbe Ton erreicht das selbe Ohr und verbindet uns, vereint uns mit damals, als wäre es heute, es ist noch das gleiche Hören heute nach 40.000 Jahren.

Planetarische Entwicklungen, Vegetationsveränderungen, Eiszeiten überwindet der Klang dieser Flöte, lässt uns das hören, was damals auch zu hören war. Mit nichts anderem sind wir so verbunden mit dem Gewesenen. Das Flüchtigste überwindet die vielen Jahre. Wenn wir es realisieren, ist es schon weg und doch ist dies das, was uns am meisten Einblick gibt in das, was einmal war und nicht mehr ist und Emotionen weckt. Der gleiche Klang, der zu unserer Seele spricht. Wir werden eins mit dieser Zeit, mit dem, was nicht mehr ist, wenn wir es hören.

Und kaum haben wir das Verschwundene gehört, kehren wir zurück in unseren Alltag, wie ich nun von dannen gehe, die Wand alleine lasse, auf die weiterhin die Sonne scheint.

Literarur:
Michael Behn, Die Erprobung der Flöte, Berlin 2023
Susanne Groß, Das Wiederfinden des Verlorenen, Berlin 2013
Volker Demuth, Zeit der Kälte, Lettre International 93, Berlin 2011

*2009 wurde in der Höhle „Hohle Fels“ bei Ulm eine 22 Zentimeter lange Flöte aus einem Flügelknochen eines Gänsegeiers gefunden, welche ca. 40.000 Jahre alt ist.
Foto: Wikipedia José-Manuel Benito