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bMünchen-Innsbruck - Karwendelbahn / Mittenwaldbahn


Wenn du nach Innsbruck fährst, musst du unbedingt mit der Mittenwaldbahn fahren, es ist eine der schönsten Eisenbahn-Strecken der Alpen

Ich folge dem Ratschlag von Freunden und steige in München-Pasing in einen völlig überfüllten Zug, bekomme gerade noch einen der letzten Sitzplätze im „Sperrgutabteil“. Im Sommer ist es für Fahrräder eingerichtet, heute ist es mit Skiern und übergroßen Koffern gefüllt. Ich sitze mit dem Rücken zum Fenster, wie günstig wäre es jetzt, einen Wendehals zu haben, um etwas von der hinter meinem Rücken vorbei ziehenden herrlichen Landschaft zu sehen, von der Voralpenlandschaft mit den Seen, den Städten wie Murnau, Garmisch, Seefeld, den Bergen mit ihren romantischen Schluchten, den Brücken, Viadukten und und und.

Als ich saß, orientierte ich mich im Waggon. Neben mir ein großer, mächtiger, Raum einnehmender Mann, der ständig im Handy seine Rede auf YouTube kontrollierte und seiner gegenüber sitzenden Begleiterin mit einem Pekinesen auf dem Schoß sehr laut mitteilte, dass schon hundert Leute seine Rede angeschaut hätten. Er redete, als ob er allein in dem überfüllten Waggon sei, und er redete, redete ständig.

Er erzählte, dass er zwei Hosen mitgenommen hätte, eine braune und die helle, ob die wohl genügen würden, was seine Begleiterin, die mit ihrem Hündchen beschäftigt war, bestätigte. Er würde bei seiner Rede in die Kamera schauen und nicht wie der Bundespräsident bei seiner Weihnachtsansprache auf den Boden, er hätte noch Polohemden dabei, drei Stück, er lachte bei dem Wort Polo, Polo, Polo, er wiederholte Polo mehrmals, um, wie es schien, über das Wort zu lachen.
Jetzt verstand ich, es ist ein Politiker, der da redete als wäre er allein im Zug, denn jetzt spricht er von seiner entscheidenden Rede im Parlament, die so wichtig war, und mit hundert Klicks bis jetzt für seine jetzige Rede auf YouTube könnte er zufrieden sein. Er lachte und aß ständig Gummibärchen, Kekse, Müsli-Riegel, Schokolade. So viel er redete, so viel aß er. Als ob er sich für jedes Wort, was aus ihm heraus kommt, mit einer Süßigkeit belohnt.
Er redete ununterbrochen von sich, Ich, Ich, Ich. Es hatte den Anschein, dass alle um ihn herum die Augen verdrehen, dass niemand ihn hören mochte, aber niemand konnte weg, wir waren eingeschlossen, waren ihm in seiner egomanischen Unangenehmheit, diesem kräftigen, fast zwei Meter großen, opulenten, ja fetten Körper mit seinen Entäußerungen ausgeliefert.
Es machte den Eindruck, dass alles was er sagt für ihn von größter Bedeutung, oder aber absolut bedeutungslos sei, da er bei jedem Satz über sich selbst lachte. Plötzlich kam er auf die Idee, dass man seine Youtube-Rede über den Zuglautsprecher abspielen könnte, dann würden die Leute hier im Zug mal etwas Vernünftiges hören, er lachte, wie er ständig lachte und begründete seine Idee damit, manchmal müsse man auch jemanden zum Glück zwingen.
In seiner ganzen adipösen, kurzatmigen Erscheinung machte er auf mich einen verschwitzten, fast verwahrlosten Eindruck, nicht ungewaschen, es ist eine andere Art von Verwahrlosung, eine Form von „nicht genug bekommen“, von Maßlosigkeit.
Wie kommt es, dass ein solch extrem unangenehmer Mensch Volksvertreter wird? Ist er mit seiner ständigen hemmungslosen Witzelei, zum Teil in Reimform vorgetragen, ist diese Unbeherrschtheit seiner Selbstdarstellung eine ideale Projektionsfläche für viele, die nicht so sind, aber gern einmal so sein möchten, einmal voll die Sau rauslassen möchten, er macht es stellvertretend für sie, die Wähler delegieren ihre Wünsche an ihn, wählen ihn als ihren Delegierten.
Wahrscheinlich möchte sein Durchschnittswähler mit ihm privat nichts zu tun haben, aber wenn er im Fernsehen, bei Reden auf die Pauke haut, ist es lustig, und er sagt das, was seine Wähler sich schon immer dachten. Und für ihn sind seine Wähler der ständige Beweis, dass er nicht so klein, so unbedeutend ist, wie er sich fühlt, sondern dass er von vielen wegen seiner vermeintlich witzigen Aggression geliebt wird, von den Wählern bestätigt, dass er ein Großer ist, so groß wie sie, seine Wähler, sein möchten. Eigentlich könnte er auch eine Opernfigur abgeben, vielleicht Falstaff.
Ich habe nichts gegen Politiker, sie machen eine schwere und undankbare Arbeit, das verbreitete Politiker-Bashing, die Beschimpfungen, finde ich billig und verlogen, aber dieser penetrante Herr irritierte mich.
Alle Mitreisenden schauten auf den Boden, auf ihre Handys, in ein Buch, auf ihre Knie, von rechts nach links, die Wimpern leicht niedergeschlagen, um die verdrehten Augen nicht öffentlich zu machen. Man hörte es richtiggehend, wie alle aktiv weghören, niemand will das hören, was wir hören mussten, niemand möchte so intim mit ihm sein, nein, nein, nein, bis auf eine Person. Ein Mann mittleren Alters, an der Türe stehend, lächelte ihn ständig an, immer in Erwartung, auf dem Sprung, dass er mit ihm Blickkontakt aufnimmt, dass er sich endlich auf ihn einlässt, ihn als Fan erkennt, als seinen Wähler, denn dann hätte er ihm etwas zu sagen, dass er ihn erkannte, dass er ein Autogramm möchte, für die Kinder, für die Enkelkinder, dass er ihm gratuliert, dass er ihn bewundert, all das möchte er ihm sagen.
Doch er ignorierte ihn, so einen braucht er nicht, von denen gibt es genügend, aber viel zu viele, die ihn nicht erkennen, die ihn nicht lieben, die ihn ignorieren, die uninteressiert wegschauen, für die interessiert er sich, das ist sein Potenzial für Zugewinn, für Zugewinn an Popularität, Verehrungs-Zugewinn, Stimmen- Zugewinn, denn Zugewinn braucht er, von Zugewinn lebt er. Der Bestand ist ok, dieser muss gepflegt werden, dafür hat er Facebook, Youtube, Twitter und seine Sekretärinnen. Die anderen muss er gewinnen oder im Zweifelsfall zertreten.
Ich hielt es nicht mehr aus, ein Platz wurde frei, genau gegenüber der Toilette, lieber den Geruch der Toilette, lieber machte ich den Toilettenwärter, als mir die Entäußerungen des Herrn länger anzuhören, ihm ausgesetzt zu sein. Der Vorteil einer Toilette ist, dass alle Menschen die Türe hinter sich zumachen und den anderen ihre Ausscheidungen ersparen.

Garmisch-Partenkirchen:
Der Herr steigt für alle hörbar mit seinem Rollkoffer aus.
Ich atme tief durch. Von dem Bombardement benebelt, schließe ich kurz meine Augen, als ich sie wieder öffne sortieren sich die Menschen gerade und nehmen alle frei gewordenen Plätze in Beschlag, so dass ich auf meinem ungünstigen Klappstuhl sitzen bleibe. Zufrieden, überhaupt einen Platz zu haben.
Nun freue ich mich auf den besonders schönen Abschnitt der Strecke. Der Zug fährt ab und sofort sind wir in den Bergen. Wie froh bin ich, diesen Zug genommen zu haben, traumhafte Bilder ziehen an mir vorbei.

Plötzlich zogen viele Mitfahrer und Mitfahrerinnen ihren Schal, ihren Pulli über Mund und Nase, als ob ein Fenster offen wäre, was aber in dem hermetisch abgedichteten Bahnwaggon unmöglich ist. Der nächste Gedanke war, jetzt fahren wir gleich in Österreich ein, hier herrscht ein strenges Burkaverbot, ein drakonisches Vermummungsverbot, dafür kann man in den meisten Kneipen hemmungslos rauchen, ist diese hier im Zug um sich greifende Vermummung eine Art Solidarität mit streng gläubigen muslimischen Frauen? Ist das eine Flashmob- Aktion? Was ist los?
Ich war zunehmend verwirrt, bis auch ich es roch: Es stank, es stank erbärmlich, es war fast nicht aus haltbar. Es stank, aber nicht aus der mir so nahen Toilette, es stank überall, der Gestank kam wie es schien aus dem von mir nicht einsehbaren Sitzabteil.
Was mich wunderte, dass niemand schimpfte, moserte, dass niemand schrie: „Typisch Bahn, unpünktlich und stinkend“, es ist so modern geworden herumzubrüllen, sich zu beschweren, andere zu beschuldigen, sich benachteiligt zu fühlen, der Beleidigtseinsvirus hat sich epidemisch ausgebreitet. Aber hier, so schien es mir, hatte der Virus die Menschen noch nicht infiziert. Alle saßen oder standen, schützten ihren Mund und Nase und versuchten, reflexartig, so flach wie möglich zu atmen, so dass die wenigsten der 350 menschlichen Geruchsrezeptoren mit dem Duftstoff der Luft in Berührung kommen.
Meine von mir bewachte Toilette wurde plötzlich der Mittelpunkt von Aktivitäten. Ein ca. 9-jähriges Mädchen kam angerannt, riss die Toilettentüre auf, holte massenhaft Papierhandtücher heraus, verschwand in Richtung der Geruchsquelle, es folgte ihr Bruder ca. 14 Jahre alt, auch er holte Papierhandtücher, aber diesmal mit der Seife des Seifenspenders getränkt, auch er verschwand in Richtung des Sitzabteils.
Ein leichtes Rumoren war zu vernehmen, so ging es eine Zeit lang hin und her, benutze Handtücher wurden weggespült und neue geholt, bis plötzlich eine aufgeregte, aufgelöste Frau mit einem Hund, einem nervösen Collieverschnitt an der kurzen Leine angerannt kam, das Mädchen und der Junge hinterher, die Frau verschwand mit ihrem Hund in der Toilette, aber kurz vor der Türe kotzte der Hund noch einmal alles aus sich heraus. Die Frau sperrte sich nun mit dem Hund in der Toilette ein und die zwei Geschwister versuchten verzweifelt mit den Papierhandtüchern das Erbrochene aufzuwischen und den Boden mit der Seifenspender-Seife zu reinigen. Bald roch es sehr intensiv nach zwei sehr verschiedenen, nicht auf einander abge-stimmten Gerüchen. Die Frau blieb mit dem Hund in der Toilette eingesperrt und öffnete nur auf Klopfzeichen ihrer Kinder.

Seefeld in Tirol:
D ie ganze Familie mit dem leer gekotzten Hund steht ausgestiegen auf dem Bahnhof und macht einen verzweifelten und doch erleichterten Eindruck. Der Hund wuselt zwischen den Beinen der Familie, wedelt ganz aufgeregt und stolz mit dem Schwanz, er weiß, dass er der Mittelpunkt der ganzen Aufmerksamkeit ist.
Diesmal setzte ich mich gleich um, blieb in der Abteilung. Nun sitze ich so, dass ich das von vielen Bildbänden gepriesene Alpenpanorama bequem ansehen kann. Der Zug wird gleich den Alpennordkamm überquert haben und hoch über dem Inntal, auf in Felsen geschlagenen Gleisen, durch rasante Tunnel, auf atemberaubenden Viadukten, über waghalsige Brücken fahren. Eine bewundernswerte Ingenieursleistung aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts.
Der Waggon leert sich, unter den Neueingestiegenen ist eine junge Frau mit einem Zwillingskinderwagen, sie nimmt mir gegenüber Platz, sie macht auf mich einen etwas überforderten Eindruck, mit zwei kleinen Kindern zu reisen, ist sicher nicht unanstrengend.

In dem Kinderwagen lagen ein dem Säuglingsalter gerade entwachsenes Kind und ein etwas älteres, mit vielleicht drei Jahren, das Schwesterchen, wie es aussah. Das besondere an dem Kinderwagen war, dass in seinem Inneren zwei Stereolautsprecher installiert waren, aus denen dröhnte fürchterlich laute hochtönige Kindermusik, dröhnte Musik in einer infantilen Babyart, bei der die Kinder nicht ernst genommen, eigentlich als blöd behandelt werden. Mir war dies schon in drei Meter Entfernung zu laut, wie musste es erst in dem Kinderwagen sein, der dazu noch ein Dach hatte, damit es nicht ins Innere regnet oder damit die Musik nach außen etwas leiser klingt oder damit sich die Kinder ganz intensiv auf die merkwürdige Art der musikalischen Früherziehung konzentrieren können.
Die Kinder lagen in einer Disko, in einer Kleinkinderdisko, in einer fahrbaren Kinderwagendisko, es fehlten nur noch Scheinwerfer, die ständig in abwechselnden Farben die Musik begleiten oder ein Stroboskoplicht, aber dies werden gleich die Brücken und die Tunnel übernehmen.
Als sich die Mutter endlich sortiert hatte, schaltete sie die Disko ab und gab dem älteren Kind ihr Handy mit einem Videospiel. Nun krachte, explodierte und schoss es aus dem Kinderwagen, die Mutter schimpfte das Kind, dass es zu blöd wäre weiter zu leben, schon wieder sei es gestorben. „So wird nie etwas aus dir, wenn du dich ständig tot machen lässt! Wie kann man nur so bescheuert sein wie du und sich ständig abschießen lassen“. Sie zeigte nun ihrer Tochter, wie man es besser macht, „so musst du das machen und nicht so bescheuert wie du und ständig totes Opfer sein“. Sie schrie das mehr als dass sie es sagte, als ob ihre Tochter schon einen frühkindlichen diskobedingten Hörschaden hat.

Nun ist es um mich geschehen, zuerst der Herr, dann der Hund und nun dies. Ich schließe die Augen und will weder etwas von der Landschaft sehen, noch etwas aus dem inneren des Waggons wahrnehmen, ich schließe die Augen, die Ohren und warte bis der Spuk vorbei ist, bis der Zug endlich im Hauptbahnhof Innsbruck einfährt.