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Über eine zentral-europäische Wasserstraße
von der Ostsee bis zum Mittelmeer
und den „Verteiler-Hafen“ von Berlin

1907 kehrte der in Vrin (Graubünden / Schweiz) geborene Ingenieur und Städteplaner Pietro Caminada (1862 - 1923) nach Rom zurück. Der Ruf eines glänzenden Ingenieurs, mit utopischen, aber realisierbaren Vorstellungen, eilte ihm voraus. Sein imposantes Aussehen, hoch und kräftig von Wuchs, ein langer weißer Bart, schulterlange Haare, immer wache blitzende Augen und sein heißsporniger, präsenter Charakter hatten ihre eigene faszinierende Wirkung.

Er kam aus Brasilien, wo er in Rio de Janeiro einen modernen Hafen baute, die Straßenbahn einführte, die Wasserversorgung der Stadt revolutionierte, die ganze Stadt zu einem modernen Zentrum umbaute und als erster Brasília, die Retortenhauptstadt Brasiliens, plante, die schließlich 1956 gebaut und 1960 eingeweiht wurde.

Pietro Caminada kam mit großen Plänen nach Europa zurück: Eine Wasserstraße, die die Alpen über- und unterqueren sollte, eine Wasserstraße vom Bodensee bis nach Genua, die Via d'Acqua Transalpina.

Es war die Zeit des großen Umbruchs, die Zeit in dem die Beschränkungen der Natur außer Kraft gesetzt wurden, die Zeit des Machbaren, die Zeit der Ingenieure. In der Schifffahrt wurde der Holzrumpf durch Stahlplatten ersetzt, das Segel durch die von Maschinen angetriebene Schiffsschraube, die Wind- wie die Wasserkraft hatte ausgedient, Maschinen übernahmen deren Funktion, die Schwerkraft zu überwinden und die Luft zu erobern stand kurz vor dem Durchbruch.

Die ersten Frauen wurden als Ärztinnen, Juristinnen zugelassen, Elisabeth von Knobelsdorff machte als erste Frau einen Abschluss in Architektur.

Kontinente wurden getrennt. Der Suezkanal brachte Europa Südostasien näher, indem man Afrika von Asien abschnitt. Kritiker, die das als ein böses Omen für den afrikanischen Kontinent ansahen, werden bis heute ausgelacht.

Dem Warenverkehr wurden keine Grenzen mehr gesetzt, die Logik des Geldes, des Kapitals konnte den noch so entlegensten Winkel der Welt erobern, einbeziehen und unterjochen. Nationalstaaten schienen sich der Vernunft unterzuordnen und sich Stück für Stück aufzulösen, sie wurden überflüssig.

Gott wurde für Tod erklärt (F. Nietzsche ) und der Mensch war nicht mehr Herr in seinem eigenen Haus (S. Freud).

Die Kunst löste die Gegenständlichkeit auf, die „Augenkunst“ hatte ausgedient (M. Duchamp ), ein „Schwarzes Quadrat“ (K. Malewitsch ) übernahm ihre Funktion.

Alles schien veraltet, alles schien neu, alles schien möglich. Die Grenzen des Machbaren hatten sich verflüchtigt.

Als die Ingenieure, Architekten und Visionäre Jan Czeminskie (1882 - 1914), Detlev Collon (1883 - 1914), Hans-Jürgen Leber (1882 - 1914), Spezialisten für Straßen-, Eisenbahn-, Wasser- wie Tunnelbau, von den Plänen einer Via d'Acqua Transalpina hörten, waren sie elektrisiert, hatten sie doch schon seit langem von einer Via Acquai Transeuropa geträumt, einer Wasserstraße, die die Ostsee mit dem Mittelmeer verbindet. Sie nannten ihren Kanal lateinisch, im Gegensatz zum italienischen von Pietro Caminada.

Die Via Acquai Transeuropa sollte in Greifswald beginnen und über Malchin, Waren, Rheinsberg, Oranienburg nach Berlin führen, wobei die vielen kleinen vorhandenen Kanäle mit einbezogen würden.

In Berlin träfe die Via Acquai Transeuropa auf die Ost-West-Verbindungen, über den Spree-Oder-Kanal könnte man Schlesien mit seinen Bodenschätzen erreichen und in Richtung Westen über die Spree die Elbe und dadurch Hamburg anlaufen und von dort den Rest der Welt.

Daher sollte in Berlin ein Verteiler-Hafen errichtet werden, in dem die Waren in alle Himmelsrichtungen umgeladen werden könnten. Dieser Hafen sollte den Namen „Ostwest-Nordsüd-Hafen“ bekommen.

Der weitere Verlauf der Wasserstraße war nun in Richtung Leipzig geplant. In Leipzig sollte die zentrale Kanalverwaltung der interkontinentalen Wasserstraße eingerichtet werden und Werften, in denen die Spezialschiffe, die den Kanal befahren durften, zertifiziert und einer zweijährlichen Überprüfung, einer Art heutigem TÜV, unterzogen werden.

Von Leipzig sollte die Wasserstraße weiter in Richtung Süden, nach Schweinfurt gehen und dort auf den seit Jahrhunderten immer wieder angefangenen und aufgegebenen Rhein-Main-Donau-Kanal treffen, der nun endgültig zur großen Wasserstraße ausgebaut werden könnte.

Die Überwindung der Mittelgebirge, des Frankenwaldes, würde mit 24 nördlichen und 18 südlichen Schiffsschleusen gemeistert werden.

Bei Regensburg träfe die Via Acquai Transeuropa auf die Donau und hätte hier Verbindung in den Balkan, weiter zum Schwarzen Meer und von dort über die Türkei und den Bosporus nach Griechenland, wie in die gesamte Region des östlichen Mittelmeeres. Ein großer Süd-Ost-Hafen würde das Zentrum dieses Wasserkreuzes sein.

Die 200 Höhenmeter nach München wären mit 15-20 Schleusen überwindbar, wie auch die weiteren 200 Höhenmeter von München nach Garmisch-Partenkirchen.

Nun käme die erste große Herausforderung. Vom Hafen Garmisch sollte ein ebener 12 km langer Schiffstunnel den nördlichen Alpenkamm unterqueren und bei Telfs (Tirol) wieder an das Tageslicht kommen, um dann, mit hintereinander gereihten Schleusen nach Innsbruck zum dortigen zentralen Alpen-Hafen zu gelangen.

In dem „Zentraleuropäischen Alpen-Hafen“ sollte eine Tauglichkeitsprüfung der Schiffe für die große Alpenunterquerung stattfinden und speziell ausgebildete Tunnelkapitäne das Kommando auf der Brücke übernehmen. Die nun folgende eineinhalbtägige Alpenhauptkammunterquerung, die 67 km von Innsbruck nach Brixen (Südtirol) erfordern nicht nur große alpennautische Erfahrung, sondern auch ein starkes Nervenkostüm, um die lange tiefe Dunkelheit und das an vielen Stellen stinkende, faulige Wasser auszuhalten. Die bisherigen Schiffscrews sollten die Möglichkeit bekommen, den Alpenhauptkamm über den Brennerpass bequem zu überqueren und in Brixen ihr Boot wieder zu übernehmen.

Die Via 'Acquai Transeuropa sollte nun weiter über Bozen, Trient nach Padua verlaufen, um dort in den Fluß Brenta zu münden, der bereits im 16 Jh. von Venedig kanalisiert wurde und südlich von Chioggia in die Adria, in das Mittelmeer mündet.

So weit die Pläne von Jan Czeminskie, Detlev Müller und Hans-Jürgen Leber.

1913 reichten sie detaillierte Beschreibungen ihres Vorhabens, Zeichnungen, Streckenverläufe en détail und erste Kostenkalkulationen dem Kaiserlichen Verkehrsminister ein, der das Vorhaben wohlwollend entgegen nahm und die Unterlagen seinen Ausschüssen zur positiven Prüfung übergab.

Am 1. August 1914 erklärte der Deutsche Kaiser den Krieg, der verheerende Erste Weltkrieg konnte beginnen.

Jan Czeminskie, Detlev Müller und Hans-Jürgen Leber, überzeugte Antinationalisten, meldeten sich freiwillig zum Militärdienst und wurden in Spandau bei Berlin, dem XVIII. Armee-Korps zugewiesen. Vom 15. bis 20. September waren alle drei an der Schacht an der Aisne beteiligt und keiner der drei überlebte die Menschenschlächterei. Sie wurden nicht als „gefallen“ verzeichnet und gelten bis heute „nur“ als vermisst.

Die Pläne der Via 'Acquai Transeuropa wurden nie bearbeitet, sie finden sich heute in Fragmenten im „Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz“. Durch die Möglichkeit, Züge mit Elektromotoren durch Tunnel fahren zu lassen, erübrigte sich der Aufwand, die Alpen mit komplizierten Wasserstraßen zu unterqueren.

Das einzige, was an Jan Czeminskie, Detlev Müller und Hans-Jürgen erinnert, ist der Westhafen von Berlin. Bei dessen Ausbau 1923-1927 zum zweitgrößten Binnenhafen Deutschlands griff man, ohne es zu dezidiert zu wissen, weitgehend auf die Vorstellungen des geplanten „Ostwest-Nordsüd-Hafens“ zurück. Keine Gedenktafel erinnert dort an die drei Berliner Visionäre.



Literatur:
Krause, Friedrich: Der Westhafen von Berlin. In: Zentralblatt der Bauverwaltung, Jahrgang 43 (1923)
Friedrich, Ronald: Vergessene Genies - Die Tragik der Geschichte. Berlin 1967
Würger, Mathilde: Bohren, bohren immer nur bohren. In: Der Mann und der Berg. Innsbruck, 2015
Negt, Oskar / Kluge, Alexander : Geschichte und Eigensinn. Frankfurt a.M., 1982
Dödle, Roswitha, Gewesen und Vergessen, Das Schicksal. Hamburg, 2013