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Rödiger UhrÜber Marcel Rödiger, den Erfinder der Neu-Zeit
oder
Als der Tag 20 Stunden bekam, die Stunde 50 Minuten, schmeckte dies der Obrigkeit überhaupt nicht

 

Marcel Rödiger, am 25. 8. 1833 im schweizerischen Jura-Ort Saint-Imier als erstgeborener Sohn auf die Welt gekommen, übernahm nicht den Hof seiner Eltern, ihn zog es von Jugendbeinen an in die Uhrenwerkstätten des Ortes. 1851 wurde er als gelernter Uhrenmacher, als Geselle, entlassen und machte sich zwei Jahre später, nach einer Wanderschaft durch verschiedene Werkstätten, mit einem Meisterbreif in der Tasche in Saint-Imier selbstständig.

Im schweizerischen Jura wurden in vielen kleinen Werkstätten Uhren produziert, Präzisionsuhren, die bis heute den Ruf der Schweizer Uhren prägen, als mechanische Qualitäts-Uhren der besonderen Klasse.

Das gesamte Jura auf der rechten wie auf der linken Seite des Bergkammes, auf dem schweizerischen wie auf dem französischen Gebiet, galt als eine europäische Hochburg der Anarchisten. Pierre Joseph Proudhon, Victor Hugo, Charles Fourier, Gustav Courbet wurden hier geboren, Peter Kropotkin und Michail Bakunin besuchten mehrmals die Gegend. Uhrenmacher galten, wie die Zigarrendreher, als sehr gebildet und belesen, daher kam ihnen auch eine besondere polizeiliche Aufmerksamkeit zu. Sie organisierten sich in Bildungsvereinen, in Debattierklubs, beschäftigten Vorleser und legten sich immer wieder mit der Obrigkeit an. Bei Verfolgung wechselten sie die Grenze und wurden von Genossen beschützt aufgenommen.

Der Uhrenmacher Marcel Rödiger wuchs in diesem intellektuellen und handwerklich sehr geschickten Milieu auf. Schon als Jugendlicher diskutierte er über Gesellschaftsmodelle und vertrat, wie viele Uhrenmacher, die Ansicht, dass das gesellschaftliche Leben wie eine Uhr organisiert werden sollte, wo ein Teil in das andere greift, jedes Teil eine wichtige Rolle spielt und kein Rädchen das andere dominieren kann. Kein Mensch soll als unnütz bezeichnet sein, da es kein überflüssiges, sich leer drehendes Rädchen geben sollte. Jeder Mensch solle sich produktiv und gleichberechtigt in die Gemeinschaft einbringen. Eine Gesellschaft sollte klar und übersichtlich aufgebaut sein, ohne Herren und ohne Diener.

Im Sinne dieser Gedanken entwickelte er eine neue Zeit. 1858 stellte er eine funktionierende Uhr vor, die nach den Prinzipien der Neu-Zeit, wie er seine Zeit nannte, funktionierte. Der Tag hatte nur noch 20 Stunden, die Stunde 50 Minuten, die Minute 50 Sekunden. Er begründete seine Neu-Zeit, dass mit dieser leichter zu rechnen sei, da sie in das zukunftweisende Dezimalmaß passe. Als weiteren wichtigen Grund für seine Neu-Zeit gab er an, dass man die Zeit nicht verkürzen dürfe, dass dies nur zu einer Beschleunigung führe. Wenn man sich mit weniger Zeiteinheiten begnüge, wie bei seiner Neu-Zeit, würde man als Resultat mehr Zeit bekommen, die man sinnvoll in gemeinschaftliche Aufgaben einbringen könne.

Seine Neu-Zeit fiel auf sehr fruchtbaren Boden. Überall redete man davon, sie wurde eifrig diskutiert und immer mehr Menschen stellten sich um und lebten nach dieser neuen Zeit. Die Nachfrage nach seinen Uhren war so groß, dass Marcel Rödiger nicht mehr nachkam, genügend Uhren nach seiner Zeit zu produzieren, obwohl er schon zehn Gesellen beschäftigte. Er vergab bald Lizenzen, um die Nachfrage zufriedenzustellen. Die Zeit bekam bald den Namen ihres Erfinders, es war ihm gar nicht recht, aber gegen die Macht der Masse konnte er nichts ausrichten, man nannte die neue Zeit Rödiger-Zeit.

Das Tal St. Imier stellte sich nach einem Jahr fast vollständig auf die Rödiger-Zeit um, auch in der zentralen Uhrenstadt des Tales, La Chaux de Fands, gab es viel Zustimmung für den Gedanken einer Neuen Zeit.

1860 marschierte die Armee in das Tal von St. Imier ein, um alle Uhren der Neuen Zeit zu beschlagnahmen und zu zerstören. Es sei Hoheitliches Recht, die Zeit zu bestimmen und die ganze Neu-Zeit, die sogenannte Rödiger Zeit sei eine anarchistische Aktion, die ausgetilgt werden müsse. Marcel Rödiger sei ein Anarchist, der nur Verwirrung stiften wolle, um sein eigenes Süppchen zu kochen, sprich seine neuen Uhren zu verkaufen. Man nutzte die Razzien auch, um nebenbei mit anderen unliebsamen Anarchisten abzurechnen.

Marcel Rödiger wurde verhaftet und in Neuchâtel (Neuenburg) in einen Kerker gesperrt. Der Besitz von Rödiger-Uhren war strengstens verboten. Über die Neu-Zeit durfte nicht gesprochen werden. Heute sind im Uhren-Museum von Neuchâtel noch zwei schön erhaltene Exemplare von Rödiger-Uhren zu sehen. Marcel Rödiger wurde der Zeitrebellion angeklagt, es würde nicht gehen, seine eigene Zeit auszurufen, nur um mehr Zeit zu haben. Die Zeiteinteilung sei Hoheitliches Recht, es sei das gleiche Verbrechen, wie wenn man sein eigens Geld drucken und sich aus dem Geldkreislauf verabschieden würde.

Marcel Rödiger wurde, in einem sehr unfairen Prozess, zu fünf Jahren Kerker verurteilt.

Ein Jahr später wurde Marcel Rödiger von einem sogenannten Rödiger-Haufen befreit. Es waren Gleichgesinnte, die in der Zeit des Zeitverbotes politisiert wurden und Marcel Rödiger als ihren Führer ansahen.

Nach der Befreiung, versteckten sie sich im französischen Pontarlier und später in Besançon. 1864 wanderte die Gruppe gemeinsam nach Amerika aus und gründete in Tennessee, USA, eine Rödiger-Gemeinschaft, die bis heute existiert und nach der Neu-Zeit des Marcel Rödiger lebt. Diese Rödiger-Gemeinschaft hat Ableger in vielen Ländern der Erde.

In den ehemaligen sozialistischen Ländern war die Rödiger-Zeit seit 1972 streng verboten, existierende Exemplare mussten zur Normalzeit zurückgebaut werden.


Das Exponat im Museum der Unerhörten Dinge ist eine rückgebaute polnische Rödiger-Uhr, 1982 in Polen erworben.

 

Literatur:
R. Tiemeyer, Die Zeit und die Folgen. Zürich, 1975.
T. Tihmer, Rödiger - ein Visionär? Berlin-Neukölln, 1978.
T. Tihmer, Die Zeit als Hebel. In: Unter dem Pflaster liegt der Strand. Bd. 21, Berlin-Neukölln, 1982.
A. Bärlie, Zeit und Zeitmaschienen im Jura. Basel, 1988
W. Müller-Funk, Die Uhr als narratives Element. Wien, 1999.