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schlemmer

 

 

Es könnte sich um ein Modell des Triadischen Balletts*
von Oskar Schlemmer** handeln.

 

Es kommt nicht oft vor, aber es kommt vor, dass ich nicht weiß, wo, wann, warum oder wie ein Exponat in das „Museum der Unerhörten Dinge“ kam. Bei diesem Ding, das sich schon seit den Anfangstagen des Museums im Depot befindet, bin ich mir nur seiner Existenz sicher. Weder der Fundort, noch seine Herkunft, seine gesamte Existenz vor seinem Dasein im Museumsdepot, die vormusealische Bedeutung ist mir absolut unbekannt.
Dieses „keine-Ahnung,-was-das-ist“ beflügelt die Vorstellungskraft mehr, als eine abgesicherte Datenlage, die klipp und klar sagt, was es ist, was es soll, wozu es gebraucht wurde oder wird.
In solch einem Fall des Nicht-Wissens hat die Fantasie die vollkommene Freiheit, sich etwas zu Denken, eine Möglichkeit zu erwägen.
Vom ersten Tag an, als ich mir, oder besser, als wir uns anschauten, das Ding und ich beäugen uns schon seit vielen Jahren, hab ich immer nur die eine Vorstellung, dass dieses Ding etwas mit dem Bauhaus, mit dem Triadischen Ballett von Oskar Schlemmer, zu tun haben muss.

Tatsächlich wird meine unbegründete Vermutung bestätigt, dass es sich bei diesem Exponat um ein frühes Entwurfsmodell, um ein Vorläuferkostüm für das Triadische Ballett handelt.
Es kann angenommen werden, dass Oskar Schlemmer mit Bewegungsfiguren experimentierte, bevor er sich den Ideen und Vorstellungen des Tänzerpaares Albert Burger (*1884-†1970) und Elsa Hötzel (*1886-† 1966) anschloss. Das Tänzerpaar der Königlichen Hofoper in Stuttgart, das intensiv nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten des Tanzes suchte, führte Oskar Schlemmer in die Welt des Tanzes ein. Oskar Schlemmer konnte in dieser Zusammenarbeit seine Vorstellungen über die Wirkung des bewegten menschlichen Körpers im Raum verwirklichen.
Die jahrelange, sehr fruchtbringende Beziehung zwischen dem Tänzerpaar und Schlemmer endete nach der ersten Aufführung des Balletts am 30. September 1922 in Stuttgart im Streit und mit einem juristischen Nachspiel. Es ging um die Urheberrechte an den Kostümen.

Dieses kleine Modell hier im „Museum der Unerhörten Dinge“ ist, aller Wahrscheinlichkeit nach, lange vor der Zusammenarbeit mit dem Tänzerpaar entstanden und ist, das zeigt die Größe und Abstraktheit, für eine Hosentaschen-Bühne entstandenen.
Dies kleine Modell beinhaltet bereits sämtliche Elemente, alle Ideen einer Kostümgestaltung, die später im Triadischen Ballett verwirklicht wurden. Aus diesem Minimodell haben sich alle Kostüme entwickelt, aus diesem Modell kann man alle nachfolgenden Kostüme ableiten.“ So Milena Tänzler, Kostüm-Historikerin.

Es ist anzunehmen, dass Oskar Schlemmer mit diesem Urmodell die Bühnenpräsenz, die Kostüm-Raum-Farbe-Korrespondenz (Triadisch : Dreiklang) auf einer Hosentaschen-Bühne studierte. Wahrscheinlich nahm er diese Bühne selbst an die Front des Ersten Weltkrieges, an die er abkommandiert worden war, mit.
Hosentaschen-Bühnen waren und sind bei Regisseuren, Dramatikern, Bühnenbildnern etc. sehr beliebt, lassen sich doch dort Ideen schnell visualisieren und stehen immer und überall, an allen Orten der spontanen Inspiration zur Verfügung.
Der erste bekannte dezidierte Bericht über eine Hosentaschen-Bühne aus dem Jahre 1518 wird dem venezianischen Theaterregisseur Alberto Vespucci (*1488 - †1564) zugeschrieben. Vierzig Jahre später, 1558, wurde erstmals eine Puppenstube gebaut, die der Herzog Albrecht V. von Bayern (*1528 - †1579) in seine Wunderkammer aufnahm. Heute geht man davon aus, dass sich Puppenstuben aus den Hosentaschen-Bühnen entwickelten, dass die Hosentaschen-Bühne das Vorbild abgab, um eine Welt in Miniatur entstehen zu lassen.
Eine der beeindruckendsten Puppenstuben steht heute im grünen Gewölbe in Dresden, es ist die Figurengruppe von Johann Melchior Dinglinger (*1664 - †1731): Der Hofstaat zu Delhi am Geburtstag des Großmoguls Aureng-Zeb.
Erst in der Biedermeierzeit wurden Puppenstuben für Kinder hergestellt, anfangs für beiderlei Geschlecht, später nur noch für Mädchen, um sie für die Küche, die Stube vorzubereiten.

Die Bühnen-Historikerin Walburga Kniffel verweist darauf, dass die ersten Vorläufer der Hosentaschen-Bühnen im sakralen Bereich zu finden sind, dass solche „Messtaschen“ bei katholischen Messe-Ritualen bis heute zum Einsatz kommen. Diese Hosentaschen-Altäre dienen dazu, auch in unwegsamen Gegenden, Bergen, Höhlen etc. oder in schwierigen Situationen, Verfolgung, Gefängnis, etc., eine heilige Messe mit allen vorgeschriebenen liturgischen Gerätschaften zelebrieren zu können. Auch in anderen Religionen kenne man solche Mini-Ritual-Altäre, bei buddhistischen Wandermönchen, im Hinduismus sowie bei Shintō-Schrein-Ritualen. W. Kniffel stellt auch die Frage, ob nicht die Traditionen der Bonsai-Bäume aus ähnlichen Überlegungen oder Motivationen entstanden sind.

Da religiöse raumbezogene Rituale in ihrer Erscheinung nicht von Theateraufführungen zu unterscheiden sind, läge der Schluss nahe, dass sich aus den kleinen leicht transportablen Altären im Zuge der Säkularisierung die Hosentaschen-Bühnen entwickelt hätten.
W. Kniffel führt Beispiele aus der Antike an, in denen transportable Kleinbühnen für Theateraufführungen, wie auch für religiöse Zeremonien verwendet wurden. Als bekanntestes Beispiel nennt sie das Wanderorakel des Wanderschauspielers Ourphrios (ca. *230 – ca. †180 v.u.Z).

In Zeiten großer Umbrüche, wo die Kunst nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten sucht, wird meist auch nach hinten geschaut, was die alten Meister hervorbrachten, wie sie die Dinge sahen und wie sie sie zum Ausdruck brachten. So ist es nicht verwunderlich, dass Anfang des 20. Jh. die Kleinbühnen, die Hosentaschen-Bühnen wieder neu entdeckt und sehr beliebt wurden.
Es überrascht daher nicht, dass Oskar Schlemmer immer eine Hosentaschen-Bühne bei sich führte, und dass die Kostüme des „Triadischen Balletts“ auf einer, auf seiner Hosentaschen-Bühne, ihre ersten Auftritte absolvierten .
Die ca. 3 cm große Figur, die sich hier im „Museum der Unerhörten Dinge“ befindet, kann daher als das Urmodell für das große, epochemachende Triadische Ballett betrachtet werden.

Bauhaus-Kritiker sowie Bauhaus-Schmäher, die im Zuge der 100 Jahr-Feiern vehement zu Worte kommen, behaupten neuerdings, dass die Figuren für das Triadische Ballett aus der 1908 entdeckten 30.000 Jahre alten Venus von Willendorf entwickelt wurden.

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* Das Triadische Ballett ist ein experimentelles Ballett mit Kostümen von Oskar Schlemmer. Es entstand ab 1912 in Stuttgart in Zusammenarbeit mit den Tänzern Albert Burger und Elsa Hötzel und hatte am 30. September 1922 in Stuttgart seine Uraufführung (Quelle: Wikipedia abgerufen 01.08.2019)

** Oskar Schlemmer (*1888 - †1943) war ein deutscher Maler, Bildhauer und Bühnenbildner. Von 1920 bis 1929 war er als Meister am Bauhaus in Weimar und Dessau tätig. Schlemmer thematisierte in seinen Werken vor allem die Stellung der menschlichen Figur im Raum. Sein bekanntestes Gemälde ist die Bauhaustreppe aus dem Jahr 1932. (Quelle: Wikipedia abgerufen 01.08.2019)

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Literatur:
Milena Tänzler: Das Kleine führt zum Großen“, Berlin 2001
Ludmilla Neuhauser: Was sich alles in Hosentaschen verbirgt, Hamburg, 2004
Walburga Kniffel: Gott, Bühne, Glaube, Köln 2008
Lydia Mittemacher: Vom Altar zum Theater, Frankfurt, 2010
Walburga Kniffel: Die Säkularisierung der Bühne, Köln 2015'
A. Brokmann: Riten und Geräte, Leipzig 2019