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fernrohr


Das Fernrohr des Kolumbus
oder
wie das erste Exponat in das Museum kam,
als es das Museum noch gar nicht gab



Fünf Mark gab mir mein Vater mit auf den Klassenausflug. Das war zu der damaligen Zeit nicht wenig. Der Vater war eine besorgter Vater, sein Sohn sollte es gut haben, ihm sollte es an nichts mangeln, besonders sollte er keinen Hunger leiden. Es war die Nachkriegszeit und wie in allen Nachkriegszeiten war die Erinnerung an den Hunger noch recht frisch. Von dem übrig gebliebenen, nicht aufgegessenen Geld konnte der Sohn ein Mitbringsel kaufen, ein Andenken an die Klassenfahrt, vielleicht einen Anhänger, eine Burg in Miniformat, die ihn später immer wieder an den schönen, interessanten Ausflug erinnern würde.

Ich war damals 11 Jahre alt. Es war ein Schulausflug zu den mittelalterlichen Burgen. Wir waren zwei Parallelklassen mit je einem Bus, von launigen Lehrern begleitet, die sich um die Disziplin der Schüler sorgten und dass niemand verloren geht. Das erste Ziel war die Burg Teck. Im Laufe des Tages kamen noch andere Burgen dazu, an die ich mich aber nicht mehr erinnern kann.
Wochen vorher lernten wir im Unterricht, was Ritter sind, wie deren Burgen aufgebaut waren, dass die Verteidiger auf die Angreifer kochendes Pech und Schwefel hinunter schütteten, um sie zu vertreiben, wie die Belagerer wiederum unter Einsatz von Katapulten schwere Steine und Eisenkugeln auf die Burg schossen und mit Rammböcken die Tore malträtierten, bis die Tore krachten, zersplitterten, und die Burg erobert werden konnte. Im Werkunterricht bauten wir solche Geräte nach. Ich baute zuhause mit Hilfe meines Vaters, er baute viel eifriger als ich, einen Rammbock an drei Ketten, und ich war überzeugt, dass diesem Rammbock kein Tor, und sei es noch so stabil, standgehalten hätte. Er war ja auch von meinem Vater gebaut.

Die Busse hielten zum Pinkeln, zum Essen, zum Füße Vertreten, zum Burg Anschauen. Schon beim ersten Halt beobachtete ich einen Jungen aus dem anderen Bus, wie er immer wieder durch ein Fernrohr schaute. Ich beobachtete ihn genau. Er hatte ein vierteiliges, ausziehbares Messing-Fernrohr. Ein altes, schon seit langem benutztes Exemplar. Ich beobachtete ihn genau und sah, wie er mit dem Fernrohr angab, sich mit ihm in Szene setzte, wie er sich selbst wichtiger war als das Fernrohr. Ich sah, wie lieblos er mit dem Fernrohr umging, wie würdelos er es behandelte, es nicht achtete, es nur benützte, um selbst beachtet zu werden.

Wie sollte ich den Jungen ansprechen? Ich hatte keine Freunde in der Schule. Alle meine Freunde waren nach dem letzten Schuljahr von der Volksschule auf das Gymnasium gewechselt, mich behielt man in der Volksschule, weil ich nicht gut genug war, und weil ich das Einzelhandelsgeschäft meines Vaters übernehmen sollte, und als Kaufmann muss man rechnen können und kein Latein oder Griechisch. So fühlte ich mich allein, einsam, isoliert, hatte vor den Anderen Angst, vor den Rabauken, die einen schubsten, kniffen, schlugen - bevorzugt zwischen die Beine. Wie sollte ich den Jungen mit dem Fernrohr ansprechen, wie sollte ich je dem Fernglas näher kommen?

Ich spürte, dass der Junge das Fernrohr nicht wert war, ja schlimmer noch, dass er das Fernrohr gefährdete. Wie sollte es mir gelingen, das Fernrohr, das ich als etwas Besonderes erkannte, aus seiner Unachtsamkeit zu befreien, aus seiner unwürdigen Behandlung zu retten?

Bei einem der nächsten Halte gelang es mir, in die Nähe des Fernrohrs zu kommen. Ich blieb unauffällig stehen, ließ alle Buben an mir vorbei gehen. Als der Junge mit dem Fernrohr auftauchte, ging ich einfach mit. So sah ich das Fernrohr zwei Meter neben mir, ich war ihm nah und meine Ahnung um die Bedeutsamkeit des Fernrohres wurde bestätigt.

Für die von meinem Vater mir mitgegebenen fünf Mark kaufte ich ihm, dem ahnungslosen, nichtswürdigen Angeber, das Fernrohr ab. Wie ich das hinbekam, weiß ich heute nicht mehr, es war alles so aufregend. Wahrscheinlich hat mich der Mut eines Verzweifelten stark gemacht und ich sprach ihn an, schlug ihm das Geschäft vor, meine fünf Mark, die bare Münze, gegen sein lumpiges, altes, abgewetztes Fernrohr. Er bekam mein Geld und ich sein Fernrohr. Ich erinnere mich nur noch, dass ich nicht durch das Fernrohr schaute. Das war auch nicht nötig, ich wusste ja was ich hatte.

Als ich das Fernrohr in der Hand hielt, wendete ich mich ab, wickelte es in mein kaum gebrauchtes Taschentuch und steckte es vorsichtig in meine Hosentasche. Ich weiß noch sehr gut, dass ich ein sehr schlechtes Gewissen hatte, weil ich dies heute noch habe wenn ich das Fernrohr sehe, dass ich mir wie ein Betrüger vorkam, weil der Junge nicht wusste, ja nicht wissen konnte, dazu war er zu dumm, was er da gerade für lumpige fünf Mark verkaufte, was er aus der Hand gab, was ich ihm abluchste. Er wusste nicht, was ich wusste, was ich nun in meiner Hosentasche verbarg.

Es war nichts Geringeres als das Fernrohr des Christoph Kolumbus, durch das er das erste Mal Amerika sah. Ich wusste genau, als ob ich dabei gewesen war, dass Christoph Kolumbus am 12. Oktober 1492 steuerbords am Reling stand, als er den Ruf hoch oben vom Mast hörte: „Land in Sicht“. Ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht. Mehr durfte er nicht zeigen, denn das hätten die Matrosen als Schwäche ausgelegt, und die Gefahr eine Meuterei war allgegenwärtig. Aber dieses eine Mal war ein Lächeln, wenn auch nur ein Kurzes, angebracht. Er gab Befehl, dem Land entgegen zu segeln. Nun lehnte er sich leicht über die Reling, holte sein, in meiner Hosentasche befindliches, Fernrohr aus der Kapitänsjacke, zog es sanft, gefühlvoll, auseinander, fokussierte es auf sein rechtes Auge und schaute hindurch. Das, was er sah, war Amerika und Amerika schaute zu ihm zurück. Dann holte er seinen Sextanten, berechnete den Längen- und Breitengrad, ging unter Deck in die Kapitänskajüte und schrieb alles auf. Kapitäne schreiben immer alles auf. Er schrieb, dass er das Ziel, sein Ziel, Indien erreicht hatte. Kolumbus wusste nicht, dass er Amerika entdeckt hatte, er meinte Indien zu sehen, aber das macht nichts, das kann jedem Mal passieren.

Erst später, viel später, zuhause schaute ich durch das Fernrohr, da sah ich auch nicht Amerika, und auch nicht Indien, sondern nur den Garten des Nachbarn, aber das war ja zu erwarten.
Viele Jahrzehnte später gründete ich das Museum der Unerhörten Dinge, und als ich das Depot einrichtete, war das „Fernrohr des Kolumbus“ das erste Artefakt, das ich an die Wand hängte.
Als ich damals, zurückgekommen vom Klassenausflug, das Fernrohr, stolz wie ich war, zuhause meinem Vater, dem Kaufmann zeigte, ihm meinen Schatz präsentierte, was ich Tolles, Wertvolles mit seinen fünf Mark gekauft hatte, schüttelte er besorgt, verständnislos seinen Kopf, sagte: „Jeden Tag steht ein Dummer auf und mit dem muss man sein Geschäft machen“, drehte sich um und ging. Es dauerte lange, bis ich verstand, wie er das meinte, mich meinte, das was ich aber sofort verstand war, dass er und ich uns nicht verstehen können, und dass, wenn das das Denken eines Kaufmanns ist, ich nie ein Kaufmann werden kann.