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die siebte SaiteAuf die siebte Saite pfeifen

Über die Qualen des Marin Marais mit der siebten Saite und warum die Flöte die Lösung war

 

Frankreich, 1701, im Frühjahr: Marin Marais, der Sologambist der Königlichen Kammermusik und seit sechs Jahren der Leiter des Königlichen Opernorchesters, sorgt für einen Skandal. Es ist die Zeit des Hochbarock, gepuderte Gesichter, Perücken, Formalien, die Formalien bestimmen, es herrscht ein durch und durch mathematisch-mechanisches Weltbild, alles ist in Regeln erstarrt, ein Leben in Etikettierungen. Marin Marais, der am Hof viel Bewunderte, schockiert die gesamte Gesellschaft. Sein Name steht für die Gambe, für die siebensaitige Gambe, er, der begnadete Gambenspieler, stellt ein neues Stück vor, das alle Zuhörer erstarren lässt. Diplomatische Kreise befürchten, dass dieses Stück beim Spanischen Hof für Verärgerungen sorgen könnte. Er, Marin Marais, der die Musik immer mehr verfeinerte, den Tönen immer mehr zufügte, neue Grifftechniken erprobte, um noch mehr und neue Töne zu erzeugen, dieser Marin Marais reduzierte sich plötzlich auf nur vier Töne, A, B, G, und Fis. Aber der größte Skandal ist, dass er, der die Flöte verachtet, sie als ein obertonloses, flach-einfältiges Holzrohr bezeichnet, dass er sein neues Stück in allen 32 Variationen von einer Flöte spielen lässt, ja es der Flöte widmet. Dieses aus diesen mageren vier Tönen bestehende Stück nennt er "Les Folies d' Espagne", die spanische Tollerei.

Wir schreiben das Jahr 1284. In einer kleinen Handelsstadt, Vito, an der spanisch-portugiesischen Grenze, treffen sich nächtlings, heimlich auf ein Klopfzeichen eingelassen, 35 Menschen beiderlei Geschlechts, um die La Folia zu tanzen. Sie sind größtenteils vermummt, später aber werden sie ihre Masken im Zuge von Tollereien fallen lassen. Der Dudelsack wird aufgeblasen, die Pfeifen an die Lippen gesetzt. Es kann los gehen.

Seit fünf Jahren ist dieser Tanz nun schon wieder verboten, als muselmanisch gebrandmarkt, als Teufelswerk, wohl wissend, dass er, der Tanz, die La Folia, auch unter den Muselmännern verboten war. Seit Jahrhunderten tanz man hier diesen Tanz, von hier breitete er sich aus. Von überall wird berichtet, dass er unter den verschiedensten Namen und Formen getanzt wird, selbst aus den kalten Regionen der Bretagne, ja selbst von Dänen und Sachsen wird berichtet, dass sie ihn tanzen. Überall aber wird er verfolgt, verboten, ist aller Obrigkeit ein Dorn im Auge.

Es heißt, dass dieser Tanz zu Ausschweifungen führe, da er keine Regeln habe, dass die Musik "La Folie" viel zu wild, das heißt viel zu frei improvisiert werden könne, dass ihm jegliche Ordnung, jedes Eingebundensein fehle. Das, was aber die Obrigkeit am meisten beängstigt, ist, dass die Gesänge immer neue Texte haben, sehr oft mit frivolen und aufrührerischen Inhalten. Es wird immer wieder von allerlei Tollereien berichtet, von sexuellen Ausschweifungen, von Rasereien, von falsch aufgesetzten Köpfen, von Ungezügeltheiten aller Art.

In Sevilla wurde 1512 eine Kommission eingerichtet, die dem Unwesen der "La Folie" Einhalt gebieten sollte. Deren Vorsitzender, Antonio Gonzalez, wurde ein Jahr später in flagranti beim Tanzen des selbigen festgenommen und hingerichtet. Bei seinem reuevollen und umfassenden Geständnis berichtete er, er habe aus Neugierde einmal mitgetanzt, dann nicht mehr davon lassen können, sei dem Willen des Körpers verfallen. Er bat inständig um seine Hinrichtung, um Erlösung und um Gnade vor dem Allmächtigen. Die erste Bitte wurde ihm gewährt, über die Erfüllung der zweiten wissen wir nichts.

Marin Marais kannte diese Berichte von solcher Musik, die den Willen bricht. Auch er wollte eine Musik schaffen, die zur Ekstase führt. Sein Leitspruch war: "Es zählt nur die Musik, die das Innere des Wesens zum Schwingen zwingt". Wie ist eine solche Musik beschaffen, wie könnte sie sich anhören, die solches hervorrufen, erzeugen kann?

Um der Intensität, der Bedingungslosigkeit einer solchen Musik auf die Schliche zu kommen, konzentrierte sich Marin Marais auf die siebte Saite der Gambe, eine umwickelte Darmsaite in A. Erst 1650 wurden die ersten Saiten dieser Art hergestellt und konnten als tiefe Basssaite dienen. Der konisch gezogene Schafsdarm war mit einem dünnen Silberdraht umwickelt, um mehr Saitendichte und dadurch einen besseren Klang zu erzeugen. Diese siebte Saite wurde in A gestimmt. Dieses A erschien ihm als Revolution, und die Zahl sieben als Ungerade verbarg ein Geheimnis. Das A als der erste Buchstabe im Alphabet auf die Sieben gesetzt, das könnte der Anfang, der Schlüssel einer neuen Dimension in der Musik sein. Marin Marais konzentrierte sich immer mehr auf dieses A. Wenn diese siebte Saite nur immer mitschwingen würde wie der Permanentklang der Bordunpfeifen bei der Sackpfeife, dem Dudelsack, wenn das A intensiv mitschwingt, dann werden diese Schwingungen auch das B, das C, das D und so weiter dominieren und die Gesamtheit der Schwingungen mit dem dominierenden A wird auf den Zuhörer überspringen und wird ihn zwangsläufig mitreißen, ihn willenlos machen. Marin Marais komponierte und spielte Stücke nur für diese Gambe mit der siebten Saite. Er ließ sich extra große Gamben bauen, die besonders den Permanentklang unterstützen, aber das Überspringen der Saitenvibration auf den Zuhörer wollte nicht stattfinden. Das Publikum hörte weiterhin nur diszipliniert zu. Er versuchte es mit einer eigens von ihm entwickelten Grifftechnik, bei der die siebte Saite die bevorzugte war, aber auch das half nichts, das Erstrebte, dass nämlich der Zuhörer nicht mehr nur Hörer ist, sondern Klang selbst wird, dass er zum Klang gezwungen wird, wollte und wollte nicht eintreten.

Am Gründonnerstag 1701, berichtet der Chronist Pièrre Renault, sei Marin Marais nach einem höfischen Konzert von einem ihm bisher unbekannten Marquis angesprochen worden, der ihn einlud zu einem Geheimtreffen der "Feinsinnigen Musikfreunde". Marais vermutete, dass es sich um eine der vielen Geheimtreffen, die am Hofe üblich waren, handelte. Jeder, der etwas auf sich hielt, der wichtig war oder wichtig sein wollte oder sich wichtig fühlte, hatte Geheimtreffen, Intrigantentreffen, verborgene Gespräche, falsche Perücken und stumme Diener. Er wollte schon Nein sagen, aber seine Neugierde überwand seinen Unmut. Mit verbundenen Augen wurde er in einer Kutsche zu einem unbekannten Palast gefahren. Seine Augenbinde wurde ihm erst abgenommen, als er sich in einem Saal befand. Er stand auf einer Balustrade und konnte in einen mit vielen Säulen bestückten Saal hinabblicken. Plötzlich vernahm er Musik, eine Flöte. Ganz leise im Hintergrund meinte er auch eine Gambe zu hören, auch ein Dudelsack mischte sich ein. Marin Marais konnte aber nicht sehen, woher die Musik kam. Er hörte sie und spürte sie, sie lähmte ihn. Er konnte nur hören, es waren wenige, eine ganz geringe Anzahl von Tönen, die die Flöte immer wieder erzeugte, sie variierte. Wiederholungen, die keine waren; kaum meinte er, Bekanntes zu hören, war gerade dies, das, was er noch nie gehört hatte, die fremdesten Melodien. Er wollte die Grundfolge aufschreiben, fand sein Notizbuch nicht, wollte sich die Notation merken, sich einprägen, aber er hörte nur, er ward nur noch ein Hören, ein eins mit der Musik, jegliches Gemerk war unmöglich, der Augenblick hatte ihn gefangen. Ab und an sah er hinter einer Säule eine Hand auftauchen, einen Fuß, dann wieder rhythmische Schritte eines Tanzes. Diese nicht endenden Variationen einer geringen Anzahl von Tönen ließen ihn alles vergessen. Die Vielfältigkeit der Variationen wollte nicht aufhören. ,So muss die Ewigkeit sein', dachte er, aber wusste nicht, ob es der Himmel oder die Hölle sei.

Plötzlich befand sich Marin Marais wieder in einer Kutsche, der fremde Marquis saß neben ihm. "Es ist genug", meinte der Fremde. Marais schaute ausdruckslos, überwältigt. "Mein Herr, was für eine Musik, welche Töne, welch eine Flöte!" Der Fremde antwortete ihm: "Lieber Marais, Sie wollten sie immer hören, es gibt sie." Marais: "Mein Herr, wer sind Sie, woher diese Musik?" Der Fremde lachte auf: "Les Folies d' Espagne, eine spanische Tollerei." und war verschwunden.

Marin Marais sagte am darauffolgenden Tag alle Termine ab. Er saß in seinem Zimmer und komponierte ein Stück, das er "Les Folies d' Espagne", die Spanische Tollerei nannte. Es besteht aus den vier Tönen G, Fis, A und B. Marin Marais schrieb 32 Variationen davon und rührte bis auf einmal niemals mehr eine seiner siebensaitigen Gamben an.

"Les Folies d' Espagne", die Spanische Tollerei, wurde das meist improvisierte und variierte Musikstück der europäischen Musikgeschichte. Carl Philipp Emanuel Bach variierte es für das Cembalo, Antonio Salieri machte eine Orchesterfassung daraus, Vivaldi und Corelli komponierten Stücke für Geigen und Continuo , Geminiani ein Stück für Streichorchester, bei Beethoven hört man in der Symphonie Nr. 3, der "Eroica", im Finale plötzlich ein G, A, B, Fis, bei Wagner im Tannhäuser, Satie variierte es unzählige Male, Rachmaninow schrieb es um für ein großes Orchester und Klavier, Schönberg variierte, Kagel experimentierte, Stockhausen kontrapunktierte die vier Töne.

Das eine Mal, an dem Marin Marais noch ein Stück für eine siebensaitige Gambe komponierte, war drei Jahre vor seinem Tod. 1725, 69-jährig, verfasste er das Stück "Die Operation des Blasensteines für Cembalo und Viola da Gamba" *. Im Kommentar zu diesem Stück schreibt Marin Marais: "Diese siebte Saite ist so überflüssig und war so schmerzvoll wie die Blasensteine, Gott sei gedankt, ich bin befreit."

*) 1965 spielten Professor Ernst Ludwig Hammer auf der Viola da Gamba und Helmut Heinz am Cembalo in Dresden eine hervorragende Schallplatte ein, mit diesem dem Blasenstein gewidmeten Stück.