logo museum der unerhörten dinge

Neli/Struga Pass


1985 hörte ich das erste Mal von dem Neli/Struga Pass. Ich las Berichte, dass zwischen dem Neli- und dem Struga-Tal ein Straßentunnel gebaut werden solle und dass die Dörfer der beiden Täler die Regierung mit Petitionen überfluteten, um den Verbindungstunnel zu verhindern. In beiden Tälern wäre man der Meinung, dass der Neli/Struga Pass, ein mühsam zu begehender Bergpfad, als Verbindung genügen würde. Mehr wäre nicht nötig. Alle wirtschaftlichen Argumente wurden ausgeschlagen, sie wollten keine neue Verbindung der Täler. Die Tunnelbaupläne wurden aufgegeben und die Berichte über die Täler und den Pass versiegten.

Mich machte die Geschichte neugierig, so dass ich mir vornahm, die Täler zu besuchen und den Pass zu überqueren.

Jedes dieser Täler gibt dem Pass seinen eigenen Namen, wie auch die Markierung des Wanderweges auf dem Sattel von rot-weiß zu blau-weiß wechselt. Die Passhöhe ist auf 2218 Metern zwischen den Gipfeln des Piz Neli (2654 m) und der Struga Spitze (2533 m), geübte Berggeher schaffen den Weg in gut 6,5 Stunden.

Auf dem Passsattel, zwischen den beiden Berggipfeln, liegt ein kleiner Weiher, von einem Hochmoor umgeben. Das Wasser läuft auf beiden Seiten in die Täler und speist die dortigen Trinkwasser-Reservoirs. Es ist die südlichste Wasserscheide der Alpen.

Im 500 m hoch liegenden Neli-Tal fand man Siedlungsreste aus dem 13. Jahrhundert, in dem 1200 m gelegenen Struga-Tal sind erste Besiedlungen aus dem 17. Jahrhundert erwähnt. Im Heimatmuseum des Bezirks, zu dem das Struga-Tal gehört, sind Geschichten über den Pass zu lesen. Früher hätten die Bauern des Neli-Tals ihr im Frühjahr nicht mehr gebrauchtes Heu den Struga Bauern, die unter strengen Wintern litten, über den Pass gebracht, wie auch, dass die Bauern des Struga-Tals immer wieder den durch Muren verschütteten Wasserzufluss ins Neli-Tal frei legten. Es wird auch erwähnt, dass es seit Menschengedenken keine einzige Eheschließung zwischen den Tälern gab.

Als ich den Pass beging, wählte ich den kurzen Anstieg vom Struga- und den ellenlangen Abstieg ins Neli-Tal. Der Pass ist auf Karten nicht als Wanderroute angegeben, sondern als unbedeutender punktierter Saumpfad. Auf dem Sattel des Passes bedrücken die zwei Gipfel den Übergang. Der Weiher ist schmucklos, das Hochmoor ist unangenehm zu gehen. An einem Felsen ist eine verwitterte alte Gedenktafel mit der Aufschrift »Zum Gedenken an Ursina Gaspatin und Andri Werdmüller« zu finden.

In dem einzigen Gasthof des Neli-Tals fragte ich am Abend, was es mit der Gedenktafel auf sich hätte. Der Gastwirt zuckte mit den Schultern, er wisse von nichts. Am andern Tag zum Frühstück lag an meinem Platz ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 1962. Darin wird berichtet, dass im August 1918 Gamsjäger die Schafherden der beiden Täler ohne ihre Hirten entdeckten. Die Schafe hätten sich zu einer Herde zusammengeschlossen, die blau gekennzeichneten Schafe aus dem Neli-Tal waren vollkommen vermischt mit den roten des Struga-Tals. Die benachrichtigten Bauern trennten die Herden und suchten mit Hunden nach den Hirten, die nicht gefunden wurden. Es hätte sich um die Jungfrau Ursina Gaspatin und den Burschen Andri Werdmüller, beide 19 Jahr alt, gehandelt.

Gerüchte, dass die beiden sich verliebt hätten und abgehauen seien, wurden in den Tälern als Unsinn abgetan, so etwas gäbe es nicht, das sei unmöglich, gegen die Natur, wenn die Täler etwas gemeinsam machen würden, so geschehe das nur aus Not, als Notgemeinschaft. Weitere Gemeinsamkeiten oder gar persönliche Beziehungen seien unmöglich, nicht denkbar.

Der Grund des Zeitungsberichtes war, dass eine Touristin aus Kanada behauptete, sie sei die Tochter der Werdmüllers, die vor Jahrzehnten von hier ausgewandert seien. Sie würde gern eine Gedenktafel auf dem Pass, wo sich ihre Eltern lieben gelernt hätten, anbringen. Dies Bestreben stieß in den Tälern auf schweigende Ablehnung, darum hätte sie sich an die Zeitung gewandt. In den Tälern erzählte man ihr, dass die beiden, ihre Eltern, bis heute auf dem Berg seien. Der Eine oder Andere hätte ihre verzweifelten Stimmen gehört.

Als ich den Artikel gelesen hatte, kam der Gastwirt und nahm ihn mir schweigend aus der Hand und sagte: »Das war der Großonkel, was die da schreiben, sagt nichts«. Und da erinnerte ich mich, dass an der Außenwand des Gasthofes groß »Haus zum Werdmüller« stand.

Zwei Jahre später wanderte ich erneut über den Pass, diesmal in entgegen gesetzter Richtung. Starker Wind erwartete mich auf dem Passsattel, dichter Nebel machte die Orientierung schwer. Die Tafel konnte ich nicht ausmachen, aber ich hörte von dort, wo ich sie vermutete, deutlich Stimmen; sie hörten sich wie eine Liebesklage an, ein verzagtes Geflüster über das Leid, dass sie sich weder in dem einen, noch in dem anderen Tal niederlassen könnten. Kaum hörte ich die Stimmen, waren sie auch schon wieder weg und es blieb der Sturm, der um die Felsen pfiff .

Veröffentlicht in : »die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik« Bd. 266
… immer steigend, kommt Ihr auf die Höhen / Bergübergänge / Zusammengestellt von Andreas Erb und Christof Hamann