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Rast in einem Park in Halle


Den ganzen Tag im Sattel macht mich müde. Ich sitze nun vor einem Saloon. Bestellte bei der Saloonwirtin, einer älteren patenten Frau, die schon genügend erlebt hat, um nicht mehr naiv zu sein, einen Kaffee. Sie serviert den Kaffee mit einer Fröhlichkeit, die eine Lebensbejahung zum Ausdruck bringt. Der Saloon ist individuell, mit eigenem Willen eingerichtet.
Der Pott Kaffee, den ich bekomme, ist ein abgestandener Filterkaffee. Er ist genau das Richtige am richtigen Ort.
Ich strecke meine müden Beine von mir, fühle mich zufrieden und wohl.
Nebenan eine Gruppe von Männern, ihr Flaschenbier vor sich stehend, das die bei ihnen sitzende Wirtin ab und an erneuert.
Ich brauche nicht zu den Karl-May-Spielen nach Bad Segeberg, ich muss nicht in die USA in einen Western- Park, in keine Goldgräberstadt, nicht einmal ins Kino. Ich sitze hier in Halle, in Sachsen-Anhalt, mitten in einem Park, in einem westeuropäischen, echten mitteldeutschen Saloon, in einem Flachbau der 60er Jahre, nebenan ein Damenfrisör, ein Massageinstitut, ein Zeitungskiosk, ein Zahnarzt, eine Fahrschule und der Ein- und Ausgang des Real Supermarktes.

Es ist schönstes Wetter. Viele Menschen schlendern durch den Park.
Plötzlich denke ich an die vielen Matratzenhäuser. Warum gibt es so viele Matratzenhäuser? Wer in aller Welt braucht ständig neue Matratzen? Hier im Park fange ich an, es zu verstehen. Es muss eine kritische Masse geben, bei der die Matratzen ihre Elastizität verlieren, wo sie nachhaltig ausleiern und erneuert werden müssen. Ich komme auf diese Theorie, weil es hier so viele übergewichtige junge Menschen gibt. Junge Menschen, die ihre Leibesfülle, in Freizeitkleidung notdürftig verpackt, zur Besichtigung austragen.
Die meisten jungen Frauen tragen Schwabbelhosen. Sie gelten auch als „Die Bequemen“, sehen aus wie Trainingshosen aus den 50er Jahren, nur aus viel dünnerem Stoff. Einige tragen auch Jumpsuits, Strampelhosen für Erwachsene. Der Werbeslogan: „Grenzenlose Bewegungsfreiheit, die gleichzeitig vollkommene Geborgenheit garantiert“.
Interessant ist, dass diese Schlabber-Kleidung als das Gegenteil der Leggings erscheint. Beim genauer Hinschauen ist es nur ein scheinbarer, äußerer Unterschied. Beide betonen den Körper und bringen ihn zur Geltung. Die elastische Leggings betont die Straffheit, die Festigkeit eines durchtrainierten Körpers. Leggings betonen die Grenzen des Körpers.
Die Bequemen umhüllen den Körper locker, sie betonen ihn in seiner Weichheit, in seiner Auflösung. Der Körper wird Entgrenzung. Sie betonen die enorme Beweglichkeit des Unterhautgewebes.
Beide Kleidungsstile signalisieren: Freizeit. Eine Ungezwungenheit. Eine sich nicht schämende Zurschaustellung des eigenen Körpers.

Bei den Männern, die manchmal neben den Kinderwagen schiebenden Frauen, meist einen Schritt zurück, gehen, ist es nicht anders. Auch sie tragen Körper betonte Freizeitkleidung, sehr oft mit abgeschnittenen Hosenbeinen und Trägerunterhemden, Muskelshirts, um ihre trainierten Muskeln zu betonen. Da schwabbelt nichts. Sie gehen aber merkwürdig breitbeinig. Es hat den Anschein, dass sie allesamt Hodenprobleme haben. Ich kenne diese breite, die Leistengegend entlastende Gangart von Urologieabteilungen der Krankenhäuser. Oder, denke ich mir, haben diese Herren im Sportstudio zu viel Krafttraining absolviert, dass sich zwischen den Beinen a-anatomische Muskelgruppen bildeten, oder ist es eine Folge von unkontrollierter Einnahme von Anabolika. Ich weiß es nicht.
Bei beiden Körpern, bei dem der Frauen wie dem der Herren, ist sichtbar die Haut die Grundlage, die Leinwand für Bilder. Alle Körper tragen Tattoos.
Bei den Männern sind es oft keltische Runen am abgeschorenen Hinterkopf, die Waden zeigen martialische Figuren, die mystische, fantasierte, chinesische, indianische Stärke ausdrücken. Das Hakenkreuz fehlt nicht bei allen.
Frauen bevorzugen asiatische Bilderwelten, oft auch laszive füllige Frauenfiguren mit großen Brüsten, die ich früher nur der Fantasiewelt der tattooisierten Matrosen zugeordnet hätte. Das Arschgeweih scheint nicht mehr angesagt, wo sind sie geblieben, was geschieht mit ausgedienten Tattoos? Es scheint, dass auf den Tattoos die gesamte Welt repräsentiert ist, alle Kulturen auf den Körpern angesiedelt sind. Diese Körperbilder wieder spiegeln eine globalisierte Welt. Ist das ein Ausdruck für ein friedliches miteinander der Kulturen?
Plötzlich erinnerte ich mich an Berlin. Ich saß vor ein paar Jahren, bei ähnlich schönem Wetter wie heute, in einem Straßenkaffee. Am Nebentisch saß eine junge Frau mit einem Säugling, sie entblößte ihre Brust, um sie dem Kind zu geben. So gut, so normal. Mit einem kurzen Blick sah ich plötzlich die Brust der Frau und mein Blick blieb an dieser Brust hängen. Die Brustwarze war mit einem Tattoo versehen, sie war zu einer Erdbeere umgestaltet. Die ganz Brustwarze eine große rote Erdbeere. Ich musste mich beherrschen, um die Brust-Frucht nicht anzustarren. Wie schmeckt die Milch dem Säugling? Ist es Erdbeer-Milch, ein Erdbeer-Milch-Shake? Wie wird das Kind, viele Jahre nachdem es der Brust entwöhnt wurde, Erdbeeren essen? Wird es sich der Erbeer-Brust der Mutter erinnern? Wie sieht die andere, noch verdeckte Brust aus, ist sie auch einer Frucht gewidmet, einer Ananas? Ich wagte es nicht, die Frau nach ihrer zweiten Brust zu fragen. Zum Glück sind die Brüste der Frauen hier im Park bedeckt, wer weiß? Ich will es nicht wissen.

In meine Gedanken versunken, höre ich plötzlich die Saloonwirtin laut und resolut schimpfen. Sie maßregelt einen leicht angetrunkenen jungen Mann, der mit seiner Bierflasche an einem der freien Tische sitzt und sich eine Zigarette anzündet. Kaum saß er, schon pflanzte sich die Wirtin vor ihm auf und machte ihm unmissverständlich klar, er solle sofort verschwinden, er könne hier nicht sein mitgebrachtes Bier trinken und geraucht wird hier schon gar nicht. Sie sagt das so laut und so eindeutig, dass es keine Widerrede geben kann.
Der junge Mann schaut irritiert, steht auf, mault, schimpft laut herum: „Du bist ja noch von der alten Schule, du bist ja noch von früher. Allen Respekt, allen Respekt. Vor so einer von früher, allen Respekt“ er wiederholt dies noch mehrmals. Die Wirtin sitzt schon wieder bei den anderen Herren und plaudert, als ob nichts gewesen wäre. Der junge Mann zieht von dannen, vor sich hin leiernd „du bist ja wirklich noch von früher, allen Respekt, allen Respekt“.

Ich packe meine Sachen ein, schwinge mich auf den Sattel, das nächste Ziel die Neustadt, die Schnellstraße, ein Autobahnzubringer, die Richtung Bad Lauchstädt.


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