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Zwischen Berlin und Dessau

Vor einem Friedhof frage ich eine Frau, wie ich am besten mit dem Fahrrad nach Dessau käme. Sie erklärt mir den Weg.
Über dem Friedhofseingang war an Stelle des obligatorischen Kreuzes ein auseinander gebrochenes Herz angebracht. Ein neu geschmiedetes in zwei Teile zerbrochenes Herz, das mich berührt.
Ich frage die Frau, was es damit auf sich hat. Mit hellen und wachen Augen schaut sie mich an und meint, dass dies ein Spezialfriedhof sei, ein Teil der Themenfriedhöfe, die es hier gibt. Dies hier sei der „Friedhof für gebrochene Herzen“. Für Verstorbene, die durch ein gebrochenes Herz am Weiterleben gehindert wurden.

Es gäbe verschiedene Gründe an einem gebrochen Herzen zu leiden und zu sterben, sagt sie, es könne ein großes Liebesunglück sein, plötzliche Sorgen mit Kindern, ein überraschender Tod, nicht erfüllte Hoffnungen, bittere Enttäuschungen, durch allerlei könnten Herzen brechen. Ein nicht geringer Teil der gebrochenen Herzen würde wieder notdürftig zusammenwachsen, mühsam, und meist blieben lebenslange Narben zurück. Bestimmte Herzensbrüche fänden keine Heilung. Diese Herzenswunden würden ständig neu aufgerissen. Was dann folge sei ein jahrelanges Leiden, in dem immer mehr ein Stück der verbliebenen Hoffnung stirbt, bis das letzte Stück Hoffnung verschwunden sei. Dann sei die Zeit gekommen, dass das aufgerissene Herz alles dominiert und der Tod als einzige Lösung erscheint. Auf dem Totenschein stehe dann nicht „gestorben an gebrochenem Herzen“, da stehe dann zum Beispiel Krebs, Herzstillstand, Schlaganfall, Herzinfarkt oder ähnliches. Wenn man aber mit den Angehörigen oder Freunden über den Verstorbenen spricht, erfährt man schnell, dass die wahre Todesursache eine nie heilende Wunde des in zwei Teile gerissenen Herzens war
Es gibt auch Verstorbene,“ erzählt sie weiter: „die starben, weil sie ihr Leben aufgegeben haben, keinen Sinn mehr in ihrem Leben sahen, keinen Lebenssinn mehr fanden, die in eine immer größere Passivität fielen, so dass ihr Herz immer kraftloser wurde, bis der darunter Leidende nicht einmal mehr die Kraft, den Mut besaß weiter zu leben. Oft fängt das Ende damit an, dass sie sich vernachlässigen, viel Alkohol trinken, sich falsch ernähren, weil alles sinnlos erscheint. Als Folge stellen sich so typische Erkrankungen wie Diabetes, Herzinfarkte, offene Beine ein. Jede dieser Krankheiten bestätigt ihre Verzweiflung, bestätigt die Sinnlosigkeit ihres Lebens. Diese Herzleidenden, die als einzigen letzten Sinn ihre Sinnlosigkeit sehen, werden von den Begleitumständen immer mehr aufgefressen. Sie ziehen sich immer mehr zurück. Sie erleben sich immer mehr als Versager, tauchen oft für Wochen ab. Freunde ziehen sich in Folge von ihnen immer mehr zurück, wollen mit ihnen immer weniger zu tun haben. Jeder um Hilfe flehende Blick wird als Dackelblick interpretiert. Mit ihrer letzten verbleibenden Sinnlosigkeit werden sie immer einsamer, bis sie zu Hause tot im Bett aufgefunden werden.
Diese mangels Sinn Verstorbenen, werden aber nicht hier auf diesem Friedhof begraben, sie finden im Nachbarort, in Gruetzo, ihre letzte Ruhestätte.“ Sie zeigt über mein Vorderrad und meint: „Dort ist es der „Friedhof des letzten Sinnes“, denn das Einzige, was diesen Toten in ihrem Leben noch Sinn machte, ist ihr eigener Tod gewesen.“

Die Frau hört nicht auf zu reden. Es gibt immer wieder Menschen, die, wenn sie jemanden gefunden haben, der ihnen zuhört, nicht mehr aufhören können zu sprechen. Der Redeschwall dieser Frau spricht weiter, dass es inzwischen fünf Themenfriedhöfe in der Gegend gäbe: „Unserer hier, der „Friedhof der gebrochen Herzen“ war der erste. Der ganze Landstrich hier ist infrastrukturell eine schwache Gegend. In den letzten 20 Jahren sind viele Menschen von hier abgewandert, besonders die Jugend zieht es woanders hin. Durch diese besonderen Friedhöfe sind mehr als 30 neue Arbeitsplätze entstanden. Schauen Sie einmal da vorne rechts, man kann von hier die ersten Häuser sehen“. Über mein Fahrradrücklicht hinweg sehe ich am Horizont Häuser: „In der dortigen Gemeinde, in Bypry, gibt es den „Friedhof der weinenden Herzen“. Man muss da genau unterscheiden, ein weinendes Herz ist kein gebrochenes oder aufgegebenes. Menschen mit weinenden Herzen ist meist etwas ganz Trauriges zugestoßen. Nichts Plötzliches, sondern etwas, das sich langsam in ihr Herz eingeschlichen hat. Das Herz leidet an einem großen Kummer, es weint und weint, es weint ununterbrochen, es weint bis es leer ist, es weint sich vollkommen trocken. Diese Herzen sind in einer immer währenden kummervollen Stimmung. In diesen Herzen ist jegliche Freude und Fröhlichkeit ausgezogen, Freude und Fröhlichkeit sind vollkommen abwesend. Ein weinendes Herz weint, bis es nicht mehr weinen kann, trocken ist, bis die Trauer, der Kummer, die Scham das Herz leer gesaugt hat, leer getrauert hat. Es weint zum Schluss nur noch trockene Tränen. In Hohenbreibrach wird gerade ein Neuer Friedhof eröffnet. Der „Friedhof für verbrannte Herzen.““

Ich will nun weg, weiter fahren, es reicht mir von dem vielen Tod. Wer weiß, was sie mir noch alles erzählt. Ich unterbreche sie, bedanke mich, setze mich auf den Sattel. Sie sagt zum Abschied „Der nächste Friedhof, an dem sie vorbei kommen, ist der „Friedhof der lustlosen Herzen, eine gute Reise und bleiben sie gesund“.
Das irritiert mich, das „Bleiben sie gesund“, wie meinte sie das, sieht sie mich schon auf einem ihrer Friedhöfe, auf welchem? Auf dem „Friedhof der rastlosen Radfahrer“?
Jetzt habe ich für die nächsten Stunden etwas zum Nachdenken.

Dies „Bleiben sie gesund“ begegnet mir auf der weiteren Reise immer wieder und verwirrt mich jedes Mal.

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