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Über den fehlenden Stocknagel des Herrn Jakob Wachter
oder
Über die Liebe

 

Im Frühjahr des Jahres 2012 brachte eine junge Frau einen alten Wanderstrock in das Museum, um ihn hier abzugeben. Da ich aber fast nie Dinge von „außen“ annehme, es passt nicht in das Konzept dieser Literarischen Wunderklammer, lehnte ich .das Exponat, den alten Wanderstock mit den vielen Stocknägeln, kategorisch ab.

Die junge Frau erzählte mir daraufhin die Geschichte des Stockes.

An dem Stock würde ein Stocknagel fehlen, diese blechernen Andenken-Plaketten, der Stolz vieler Wanderer, der belegt, dass der Wanderer, die Wanderin dort, wovon die Abbildung des angenagelten Souvenirs berichtet, gewandert ist, dass also an diesen Wanderstock ein dafür vorgesehner Stocknagel nie angenagelt wurde. Er wäre eine Grabbeigabe für ihre vor zwei Jahren, mit 94, verstorbene Großmutter, geworden.

Ihre Großmutter, erzählte die junge Frau weiter, lernte im Frühjahr 1984 bei einer Wanderung im Emsland Jakob Wachter aus Oldenburg kennen. Sie könne sich noch etwas an den Mann erinnern, sie sei damals ein kleines Kind gewesen, sie wisse noch, dass es ein kleiner kräftiger Mann gewesen sein.

Frau Rosi Piller, ihre Großmutter, und Jakob Wachter waren leidenschaftliche Wandersleute. Beide hatte ihre Partner sehr früh verloren und um nicht allein wandern zu müssen, nutzen sie das Angebot von geführten Wandertouren bei den Naturfreunden. Bei einer solchen Wanderung lernen sie sich kennen. Sie gingen die ganzen Tage nebeneinander, entdeckten immer mehr Übereinstimmungen, zum Schluss der Wanderungen, waren sie ein Liebespaar und die ganze Wandergruppe, die anfangs nur munkelten, zerrissen sich nun über sie ihre Mäuler.

Die nächsten Monate wurden viele Briefe zwischen Oldenburg und Hannover, wo sie wohnte, hin und her geschickt.
Sie besuchten sich gegenseitig und lernten sich immer besser kennen.

Ab dem Sommer 1985 wanderten sie dann mehrmals im Jahr zusammen, zu zweit, blieben aber aus Verbundenheit noch Mitglieder in dem Naturfreunde-Verein.
Zusammen zu ziehen war immer wieder ein Thema, aber beide hatten ihre Kinder und auch die Enkelkinder in ihren jeweiligen Städten und so wollten und konnten sie sich nicht überwinden, diese Bindungen zu verlassen.

So pendelten sie hin und her und führten eine recht glückliche Fernbeziehung, mit allen Vor- und Nachteilen.
Auf allen Wandertouren kaufe sich Jakob Wachter einen Stocknagel und nagelte ihn auf seinen Wanderstock. Er hatte schon eine ganze Sammlung von schönen schmucken Stöcken zu Hause.

Die zunehmenden Herzprobleme, die Jakob Wachter hatte, versuchte er, so weit es ging, seiner Freundin zu verheimlichen. Auf ihre Frage, ob er denn noch so viel wandern könne, antwortete er, dass sein Arzt es ihm sogar empfohlen hätte, er solle sich nur nicht überanstrengen und über 1500 Meter Höhe in den Bergen wäre für ihn nicht so günstig.

Im Sommer 1988 machten sie wieder ein Wanderung, die dritte in diesem Jahr. Er meinte, ihm würde es sehr gut gehen, daher sollten sie doch einmal ins schöne Land Tirol fahren, wo sie noch nie zusammen gewesen waren. Er würde es gut schaffen, so weite Strecken und so hoch hinaus müssten sie ja nicht.
Sie mieteten sich in Jerzens, im Pitztal in Tirol, ein und machten kleine Tagestouren.

Am 18. August fuhren sie mit dem Sessellift auf das Hochzeigerhaus. Es war ein wunderschöner Tag, die weißen Wolken kontrastierten wunderbar mit dem tiefen Blau des Himmels.

Sie wanderten auf den Alpenwiesen, rasteten immer wieder und bestätigten sich, wie glücklich sie doch miteinander waren, hielten sich die Hände, die ihrigen wollte er gar nicht mehr loslassen.

Zu Mittag setzten sie sich unter eine Zirbelkiefer, packten ihre Brotzeit aus, aßen ihr Mitgebrachtes, wurden müde und dösten, sich gegenseitig haltend, ein.
Jakob Wachter wachte plötzlich mit einem unangenehmen, beklemmenden Gefühl auf, in seiner Brust zog sich etwas zusammen, er bekam schwer Luft. Er schmiegte sich an Rosi Piller und flüstere ihr ins Ohr, sie solle ihn ganz fest halten, er wäre so glücklich mit ihr und möchte und wird nie mehr ohne sie sein.

Sie spürte, was er meinte. Später berichtete sie immer wieder von der Ruhe, die er ausstrahlte und mit welcher verwunderten Gelassenheit sie darauf reagierte, von den heiteren zufriedenen leisen Gesprächen, die sie führten. Als er immer schwächer wurde und sein Atem immer schwerer ging, kuschelte sie sich noch mehr an ihn, flüstere ihm Liebkosungen ins Ohr. Es dauere nicht mehr lange und er starb in ihren Armen.

Einen vorbeikommenden Wanderer bat sie, auf der Bergstation Bescheid zu sagen, dass sie einen Arzt schicken sollten, ihrem Mann würde es nicht gut gehen. Sie wollte den Wanderer nicht erschrecken und von einem Toten reden.

Sie hielt ihn noch eine dreiviertel Stunde in ihren Armen, ganz zufrieden und glücklich, bis der Arzt den Tod feststellte und als Todeszeitpunkt sein Ankommen bestimmte. Er verständigte die Bergrettung, die die sterblichen Überreste übernahm.

Rosi Piller fuhr mit dem Sessellift ins Tal, wo sie einen Schwächeanfall erlitt und von Sanitätern, die schon auf sie warteten, behandelt wurde.
Der Stocknagel von Jerzens, den ihr Jakob in der Hosentasche seiner Knickerbocker hatte, wurde ihr noch in Jerzens ausgehändigt.
Sie behielt ihn immer bei sich und ihre Kinder mussten ihr versprechen, ihn, den Stocknagel, der nie an den Stock kam, auf ihre Urne zu legen. Sie sollten ihn ja nicht mit in den Sarg geben, da würde er nur mit ihr verbrannt werden, nein, sie sollten ihn auf die in der Erde stehende Urne legen. Das sei möglich, sie sollten da gar nicht lange fragen, sie hatte das bei einer Beerdigung gesehen.

Vor zwei Jahren konnte man ihr diesen letzten Wusch erfüllen.

Bei der Auflösung der Wohnung rettete das Enkelkind den Stock mit den vielen angenagelten und der einen fehlenden Plakette vor der Entsorgung.

 

Literatur:
Karl Wimmer, Das Schöne Pitztal, Innsbruck, 1967
Gerhard Zummer, Der Tod in der Höhe, Bregenz, 1972
Ingrid Thurner, Das Souvenir als Symbol und Bedürfnis, Wiener völkerkundliche Mitteilungen, N. F. Bd. 36/37, Jg. 1994/95, 1995, S 105
Marianna Ludwig, Der Stocknagel - Die Hutnadel, München, 2001