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AntischallBruno Retlau und sein Tonneutralisator
oder
Die gehörte Stille des Antischalls

 

Die Destruktive Interferenz, auch Antischall benannt, entsteht, wenn ein Schall, ein Ton, ein Geräusch, ob als angenehm oder störend empfunden, eliminiert wird, d.h. ein real vorhandener Ton, ein Geräusch, wird durch einen anderen Ton unhörbar gemacht. Die ursprüngliche Quelle des Tons sowie der neu erzeugte Ton werden nicht gehört. Dieses physikalische Phänomen nennt man Destruktive Interferenz oder den Antischall.

Zu erklären ist dieses Phänomen so, dass jeder Ton, jeder Schall eine Welle ist, die sich in einer Schwingungskurve, einer Amplitude, ausbreitet. Setzt man nun auf diese Schwingung eine Antiamplitude, also eine identische Gegenschwingung, werden beide ausgeglichen, werden neutral, sind nicht mehr hörbar, nicht mehr wahrnehmbar. Dem ursprünglichen Ton wird ein neuer, negativ identischer entgegengesetzt und dadurch unhörbar gemacht. Das was nun gehört wird, ist im wahrsten Sinne des Wortes die Stille, sozusagen eine tobende, gehörte Stille, denn beide Töne, der ursprüngliche wie der neu erzeugte Gegenton, sind vorhanden, blockieren sich gegenseitig, so dass keiner mehr zum Zuge kommt, keiner der beiden gehört werden kann. Das gesamte Tonspektrum ist blockiert, neutralisiert und eliminiert.

Das Resultat ist die gehörte Stille. Diese gehörte Stille unterscheidet sich grundsätzlich von der einfachen, nicht gehörten Stille. Bei der einfachen, nicht gehörten Stille sind keine Töne vorhanden, kein Ton, kein Geräusch, kein Ausschlag einer Amplitude sind zu verzeichnen, es ist die Abwesenheit des Tones. Bei der gehörten Stille ist nicht nur ein Ton vorhanden, sondern ein verdoppelter, denn auf den ursprünglichen Ton wurde ein neuer gleicher Stärke und Qualität draufgesetzt, nur in negativer Form. Bei der gehörten Stille ist quasi ein verdoppelter Ton vorhanden, wobei beide, der ursprüngliche sowie der neu dazugekommene, nicht hörbar sind.

Bruno Retlau (1900-1984) war der erste, der dieses Thema praktisch anging. Er wohnte in Berlin- Kreuzberg in der Methfesselstraße 7. Zwei Häuser weiter wohnte sein Freund Konrad Zuse. Bruno Retlau wohnte nicht wie Zuse bei seinen Eltern, er hatte eine kleine eigenständige Wohnung im Parterre. Beide waren etwas verrückte, von sich selbst sehr überzeugte und eigensinnige Ingenieure; der eine wollte einen Universalrechner bauen, der andere ein Gerät für eine reine, störungsfreie Tonaufnahme und Wiedergabe. Im Gegensatz zu Konrad Zuse, der seinen aussichtsreichen Ingenieurberuf bei den Henschel Flugzeugwerken, wo dieser den um 10 Jahren älteren Bruno Retlau kennengelernt hatte, aufgab, um bei seinen Eltern, von ihnen skeptisch, aber aufopferungsvoll unterstützt, in ihrem Wohnzimmer an seinem Rechner zu basteln, verfügte Bruno Retlau über ein ganz kleines Vermögen, von dem er mehr schlecht als recht leben konnte. Er gab seine Stelle bei den Henschel Flugzeugwerken ein Jahr später als Zuse auf, um sich ganz der Tonaufnahme und deren Wiedergabe zu widmen.

Die Methfesselstraße im Berliner Bezirk Kreuzberg ist eine bis heute mit Kopfstein gepflasterte Straße, die eine leichte, natürliche Anhöhung hoch führt, eine Rarität in dem sonst flachen Berlin. Oben am Berg thronend, auf dem Gipfel sozusagen, stand die Schultheißbrauerei. Heute ist die Brauerei geschlossen. Eine Immobilienfirma, die aus der Brauerei sündhaft teure Wohnungen und Lofts bauen wollte, hat schon in der ersten Bauphase Insolvenz beantragt, so dass eine Bauruine übrig geblieben ist.

In der Methfesselstraße rattern heute keine Bierkutscher mehr hinauf und herunter, wie es zur Zeit von Zuse und Retlau alltäglicher Betrieb war. Viele dieser Bierkutschen hatten Räder mit Eisenbändern, die einen entsprechenden Lärm machten, die schweren Brauereipferde mit ihrem Beschlag sorgten für ein ständiges Geklappere. Dieser Krach nervte den für Töne hoch sensiblen Bruno Retlau so, dass er Eingaben an das Bezirksamt Kreuzberg schickte, die Straße doch zu teeren, so dass die größten und heftigsten Schwingungen aufgefangen würden. Nichts geschah. Auch seinen Freund Zuse, der in der Zehn im dritten Stockwerk wohnte, ärgerten die Vibrationen der Fahrzeuge, die bis in seine Wohnung zu spüren waren. Beide kamen nun auf die Idee, selbst Abhilfe zu schaffen. Zuse wollte in seiner Wohnung ein Gerät installieren, das den Vibrationen entgegenwirkte. Es sollte eine Art zentrifugales Kreiselsystem sein, das in die entgegengesetzte Richtung schwingt als die Schwingungen der Straße. Heute wird eine ähnliche Technik bei Brücken und Hochhäusern eingesetzt. Konrad Zuse war aber mit seinem Rechner so beschäftigt, dass er über einige Zeichnungen und Berechungen nicht hinaus kam. Anders Bruno Retlau. Dieser ging intensiv daran, die Töne der Bierkutscherei zu untersuchen und zu analysieren, um sie beherrschbar zu machen. Er knüpfte an die Theorien von Paul Lueg (1933 veröffentlicht) an und unternahm Versuche, die lärmenden Straßentöne zu neutralisieren, indem er den ursprünglichen Tonschwingungen Gegenschwingungen entgegensetzte.

Seine Berechnungen waren die ersten Aufgaben, die Zuse an seinem Urcomputer ausprobierte. Die Resultate der handschriftlichen Berechnungen und die des Computers verglichen Zuse und Retlau mit größtem Interesse, so dass je nach Resultat sowohl der Maschine Fehler nachgewiesen werden konnten als auch den Berechungen Retlaus.

Retlau gelang es immer besser, die Töne zu neutralisieren und manchmal eine einigermaßen gezielte und akzeptable Stille zu erzeugen. Er installierte an der Methfesselstraße Mikrophone, die die von den Bierkutschen erzeugten Töne abnahmen. Diese Ursprungstöne leitete er in einen Antiscope. Dieses Gerät ermittelte die Antiparameter der Realwelle hinsichtlich der Amplitude, der Phase und der Frequenz und schickte dann das erzeugte Resultat, die Antiamplitude, an große Lautsprecher, die wiederum die Antiwelle den Kutschen entgegenschleuderten und dabei den Antischall erzeugten. Das Problem war, dass die elektrischen Impulse in ihrer Verarbeitung schneller als der Schall sein mussten, so dass der künstliche Gegenton den authentischen Ursprungston noch erreichte, um ihn zu eliminieren. Es passierten in der Erprobungsphase immer wieder die kuriosesten Dinge. So waren plötzlich nur noch hohe, schmerzhafte Töne zu hören oder die Brauereifahrzeuge klangen extrem hölzern. Manchmal quietschte die ganze Straße widerlich oder brummte in einem tiefen Ton.

Einige älter Bewohner der Straße erinnern sich noch heute daran und erzählen von den merkwürdigen Geräuschen, die in der Straße zu hören waren, ab und zu sei auch eine fast beängstigende Stille eingetreten, in der man nicht einmal sein eigenes Wort hören konnte, geschweige denn die Flugzeuge des nahe gelegenen Flughafens Tempelhof, die zur vertrauen Geräuschkulisse gehörten.

Während des Krieges, in dem Retlau zum Heimatdienst verpflichte wurde, zum Frontdienst wurde er als untauglich eingestuft, kam er in das Städtchen Grafenau im Bayrischen Wald, siedelte sich dort an und heiratete die Tochter eines Kinobesitzers. Seine gesamten Gerätschaften und Aufzeichnungen seines Tonneutralisators wurden 1944 bei einem Bombenangriff in Berlin vernichtet. Bruno Retlau genoss die Stille des Bayrischen Waldes, wo sich die Klänge nicht so vermischten wie in den Großstädten. Seine Heimatstadt Berlin besuchte er nie mehr. Er führte mit seiner Frau Judith das Kino Delphi in Grafenau. Seinem Freund Zuse schrieb er 1974 einmal: " ... ich genieße diese Stille der Wälder" und gratuliere dir zu deinem Erfolg und der späten Anerkennung, die du heute bekommst und sehr wohl verdient hast. Ich erinnere mich noch gerne an die Versuche, die wir mit meinen verrückten Berechungen an deiner Maschine gemacht haben. Ich für meinen Teil bin froh, mich nicht mehr mit Tönen beschäftigen zu müssen ...". Die Bewohner von Grafenau erzählen bis heute, dass im Kino Delphi die Geräusche, die Musik so intensiv waren, dass man immer meinte, mitten im Geschehen zu sitzen. Es fehlte jegliches Rauschen, das man von den anderen Kinos her kannte. 1984 starb Bruno Retlau. Seine Frau führte das Kino noch 3 Jahre weiter. 1987 wurde das Kino Delphi geschlossen, die Filiale einer Drogerie-Kette zog ein, aber nicht, bevor sie nicht alle Kino-Utensilien an einen Schrotthändler verkauft hatte.

 

Literatur:
Peter Kempin, Der Antischall und die Animateure. Berlin, 1982.
Hugo Mayer, Zur Geschichte der Destruktiven Interferenz. München, 2000.
Peter Kempin, Der Tod des Ursprungs. Berlin, 2001.
Bezirksamt Kreuzberg, Gedenktafel in der Methfesselstraße