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rennautoDie Geschichte eines Kinder-Rennautos

1921 kämpft die bolschewistische Regierung um ihr Überleben. Im Süden erobern die konterrevolutionären „Weißen“ immer mehr Gebiete, unterstützt von Frankreich, England und der USA, im Osten landen die Japaner, aber das schlimmste ist, dass sie im Land selbst kaum Unterstützung hat, dass die Bevölkerung unverständlich ihrem Treiben zusieht.

Die Künstler, die von Anfang an auf der Seite der Revolution standen, wurden aufgefordert sich voll und ganz für den Dienst der Revolution zur Verfügung zu stellen. Sie sollten ihre Staffeleien stehen lassen und dafür Propaganda-Bilder malen, die Schauspieler sollten auf das Land und in die Fabriken gehen, um die Ideen der Revolution zu verbreiten. Agitprop-Züge wurden ins Land geschickt; Schiffe und Lastwagen wurden fröhlich dekoriert, um die Bevölkerung zur Unterstützung der großen Veränderungen zu gewinnen. Die Künstler verwoben sich wie noch nie zuvor und nie danach eng mit der Politik. Sie stellten ihre ganze Fähigkeit der Revolution zur Verfügung. Leo Trotzki forderte die gesamte Künstlerschaft auf, „mit Aktionen die Phantasie des Volkes anzufeuern und die Idee der Revolution unauslöschlich in die Erinnerung des Volkes zu graben“.

Im Frühjahr 1922 auf dem 2. Jahreskongress der 1920 gegründeten Staatlichen Hochschule für Kunst und Technik (VkhUtemas) präsentierten verschiedene Künstlergruppen Arbeiten für die revolutionäre Umgestaltung des Alltags. Revolutions-Keramik wurde besprochen, Embleme für Ministerien, Architekturentwürfe (Talins Modell des Monuments für die III. Internationale wurde diskutiert). Immer wieder wurde die Frage aufgeworfen, wie ein revolutionärer Alltag auszusehen hätte, wie revolutionäre Alltagsgegenstände zu entwerfen seien. Kasimir S. Malewitsch stellte den ersten Entwurf seiner suprematistischen Teekanne vor (gefertigt 1923 von der SPM). Die zentrale Auseinandersetzung ging um die Frage, ob eine neue Form funktional sein sollte oder ob ein revolutionärer Gegenstand sich der Funktionalität nicht zu unterwerfen hätte, was heißt dass die revolutionären Dinge von ihrer Funktionalität befreit werden müssten und dass man nur noch auf die
Interaktion der Formen achten sollte.

Die starke Fraktion der Suprematisten um Malewitsch setzte sich durch. Ausnahmslos alle Gegenstände sollten von nun an aus den Grundmotiven Kreis, Viereck, Rechteck und Dreieck geschaffen werden.

Als gemeinsames Werk wurde in einer Arbeitsgruppe, unter Leitung von Malewitsch, ein Rennauto konstruiert, eine Kinder-Rennauto, in dem alle Wesentlichkeiten der Revolutionssicht zur Geltung kommen sollten: die Schlichtheit der Form, die Reduzierung auf das Eigentliche, die Dynamik und die Symbolik der Farben.

Das Rot des Rennkörpers stellte die Macht der Revolution dar, die schwarzen Räder, die größer sind als der Körper, die Wucht der Bewegung, wobei die sichtbaren roten Achsen daraufhin weisen, dass die Räder der Dynamik des revolutionären Volkes folgen, und der weiße Kopf stellte die Unendlichkeit des Lenkers dar, die Schwerelosigkeit, in dem der Mensch sich in der Zukunft bewegen könne. Der Einspruch eines Mitwirkenden, dass die Farbgebung die Stadtfarben einer süddeutschen Kleinstadt
seien, wurde als kleinbürgerliche Ängstlichkeit abgetan.

Mehrere Exemplare wurden für den neuen experimentellen psychoanalytischen Kindergarten in Moskau angefertigt. Die Reaktionen der Kinder auf das neue Spielzeug wurden beobachtet und immer wieder zur Reflektion an das Künstler-Komitee gemeldet. Das Rennauto wurde als gelungenes
Exemplar der neuen Form gelobt, von den Kindern geliebt und für eine Produktion in großer Stückzahl
empfohlen.

Es kam nie in die Serien-Fertigung. Der spätere Stalinismus verbannte fast alle künstlerischen Ideen, so auch das Rennauto, es wanderte, wie so vieles, in ein geschlossenes Archiv in Moskau.

Erst 1988 im Zuge der Perestroika und von Glasnost unter Gorbatschow, als zum Teil geheime Archive geöffnet wurden, entdeckte die Kunststudentin Nataly Danko, eine Enkelin von Nataly Y. Danko, welche mit ihrer Schwester Elena Y. Danko auf dem Kongress von 1922 dabei war, das Rennauto. 1990 wurde das Rennauto von dem Spielwarenkombinat IV in Leningrad in die Produktion genommen.

 


Literatur:
Nina Lobanov-Rostovsky: Revolutionskeramik. Basel, 1990.
Rosalda Nemilski: Funktion von Kinderspielzeug. Bremen, 1999.