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Präsent-PorträtVom Präsent-Porträt zum Passbild
oder
Des Herrn Michel de Montaignes moderne Identitätsbestimmung

 

Die Deutschen sind große Liebhaber von Wappen, denn eine Unzahl hiervon hinterlassen die durchreisenden Edelleute des Landes an den Wänden aller Gasthäuser, auch sämtliche Fensterläden sind damit übersät.

Diese Bemerkung schrieb der große französische Philosoph, Humanist, Skeptiker und Begründer der literarischen Kunstform des Essays, Michel de Montaigne (1533 – 1592), als er bei seiner Reise nach Italien in Augsburg Station machte.

Für jede Herberge waren solche Wappen die größte Ehre und Zierde. Es war in jener Zeit üblich, dass Herrschaften, wenn sie mit ihrer Beherbergung zufrieden waren, ihr gemaltes Wappen hinterließen. Diese wurden in der Herberge öffentlich präsentiert, um allen zukünftig Herbergssuchenden zu zeigen, wer schon alles in dieser Herberge genächtigt hatte und mit der Bewirtung zufrieden war.

Die Identität einer Person wurde in der damaligen Zeit anhand eines Wappens und an der Kleidung bestimmt. Der Schmied aus Celle wurde in Braunschweig als Schmied aus Celle erkannt, da er typische Celler Kleidung trug und diese wiederum war mit den Insignien seines Berufsstandes versehen. Selbst der Name der Person war für die Ansprache nur bedingt wichtig, der Schmied aus Celle wurde meist nur mit „Schmied aus Celle“ angesprochen. Die Wappen bei höheren Herrschaften waren insofern eindeutig, wiesen sie doch die Person als eine höhere aus, einem bezeichneten Geschlecht zugehörig. Wer auf Reisen gehen musste, ließ sich beglaubigte Schreiben über sein Wappen und über seine Kleidung ausstellen, um seine Person anerkennen zu lassen. Solche Schreiben der Identität wurden zumeist von den Grenzbeamten des zu durchreisenden Gebiets ausgestellt und kosteten Gebühren.

Mit der zunehmenden Reisetätigkeit im Europa des 16. Jahrhunderts wurden die Wege immer besser, die Kutschen bequemer und die Überfälle auf Reisende seltener. Überall machte sich eine Neugierde breit, nicht nur zu Handelszwecken zu reisen, sondern auch um anderes als seine Umgebung kennenzulernen.

Durch diese zunehmende Reiselust nahmen auch die Wappen in den Gasthäuser überhand, wie es Montaigne eingangs beschrieb.

Um sich von den üblichen Wappen abzusetzen, hinterließen bestimmte, sehr begüterte Herrschaften Präsent-Porträts. Diese Präsent-Porträts zeigten neben ihrem Wappen auch ein Porträt der Person. Da die Anfertigung eines eigenen Porträts eine teure und aufwendige Angelegenheit war, konnten nur vermögende und einflussreiche Personen ein solches Abbild ihrer Person als Anerkennung der Bewirtung hinterlassen.

Unser heutiges Wissen über das Aussehen vieler wichtiger Zeitgenossen der damaligen Zeit verdanken wir der Existenz solcher Präsent-Porträts.

Michel de Montaigne machte sich mit einer größeren Reisegesellschaft am 5. 9. 1580 von Beaumont nördlich von Paris auf, um Rom einen Besuch abzustatten, vor dem Papst niederzuknien, in Lucca sein Blasenleiden behandeln zu lassen, und um sich anschließend wieder in seinen Turm, zu Hause, schreibend zurückzuziehen.

Bei dieser Reise musste die Reisegesellschaft immer wieder lange Verzögerungen hinnehmen, um die von ihnen geforderten Papiere anfertigen zu lassen. Mit allerlei Begründungen wurden diese Schikanen durchgeführt. Als Seuchenvorbeugung wurden sie ausgegeben, hier musste eine Gesundheitsattest beigebracht werden, der zuständige Beamte stand an der Kontrollstelle schon bereit. Ein anderes Mal mussten Kriminelle ausfindig gemacht werden, dann wurden umständlich Identitätspapiere angefertigt, die am Abend schon nicht mehr gültig waren. Auch Zählungen waren sehr beliebt, hier mussten genaueste Angaben über den Grund der Reise gemacht werden und diese schriftlich und amtlich bestätigt werden. Montaigne bemerkte dazu nur, dass diese Maßnamen nur einen Zweck besäßen: dem Reisenden sein Geld aus der Tasche zu ziehen.
Michel de Montaigne nahm auf seine Reise 15 Präsent-Porträts mit, die er in von ihm als außergewöhnlich angenehm empfundenen Herbergen als zusätzliche Gabe hinterließ. Heute besitzt die alte deutsche Reichsstadt Augsburg zwei dieser Porträts, eines hinterließ Montaigne im Hotel „Zum Morgenstern“, das zweite dem Kupferstecher Julius H. Greiderle.

Von den Stadträten, die Montaigne und seinem Mitreisenden d’Estissac die Ehre erwiesen, ihnen ein Abendessen auszurichten und ihnen durch sieben uniformierte Amtsdiener und einen höheren Beamten vierzehn große Gefäße mit einheimischem Wein überreichten, erfuhr Montaigne, was in dieser Stadt, die ihm außerordentlich gut gefiel, geplant und gesprochen wurde. So hörte er unter anderem, dass auf Initiative Augsburgs in den Freien Städten der Deutschen Länder Überlegungen angestellt wurden, das Reisen durch einen einheitlichen Personen-Ausweis zu erleichtern, einen Ausweis, der in allen Städten anerkannt werden sollte. Dieser sollte reich und üppig verziert sein, schwer nachzuahmen und die wichtigsten Daten der Person erfassen, so dass sie von allen anderen zu unterscheiden sei.

Auf einem solchen Dokument sollte auch ein Porträt der ausgewiesenen Person zu sehen sein, ein Porträt, das möglichst der Wirklichkeit entspräche und ohne die üblichen Verhübschungen auskomme. Dieser Personen-Ausweis sollte von den Städten eigenhändig ausgestellt und beglaubigt werden, in allen Deutschen Ländern anerkannt sein, freie Durchreise und den obligatorischen Schutz gewähren.

Montaigne beantragte gleich einen solchen Ausweis und die Ratsherren verwiesen ihn an den Kupferstecher Julius H. Greiderle, der gerade dabei war, ein Muster für einen solchen Ausweis zu entwerfen. Der Sekretär Montaignes übergab dem Kupferstecher eines der Präsent-Porträts, damit ein so genanntes Pass-Bild des Herrn de Montaigne auf dem Ausweis aufgebracht werden konnte.

Kurz vor seiner Abreise am 19. Oktober 1580 überreichte eine Stadtratsabordnung Montaigne seinen Ausweis, ausgestellt auf seinen vollen Namen und mit einem lebensechten Porträt. Montaigne bedankte sich und gratulierte den Ratsherren von Augsburg für diesen seinen Personal-Ausweis, er sei mit erhabenem Stolz erfüllt, als erster einen solchen Ausweis sein eigen nennen zu dürfen, denn diesen Ausweisen, mit lebensechten Porträts, gehöre die Zukunft.

Die Reichsstädte konnten sich nicht auf einen solchen Ausweis einigen, jede Stadt wollte ihren eigenen und die Fürsten boykottierten die Idee allesamt, so dass nach vier Verhandlungsrunden die ganze Sache zu den Akten gelegt wurde.

Erst über 300 Jahre später, im Zuge des ersten Weltkriegs, wurde ein solcher Ausweis eingeführt. Flächendeckend bekamen die Menschen ein Stück Papier, das ihre Person beschrieb und mit einem Abbild ihres Gesichtes in der neuen Technik der Fotografie versehen war.

Michel de Montaignes deutscher Ausweis wurde bei dem verheerenden Brand 1885 in seinem Haus stark beschädigt, konnte aber 2005 von der Restauratorin Meike Mentjes in Berlin wieder rekonstruiert werden.

 

Literatur:
M. de Montaigne, Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581. Frankfurt a. M., 2002.
M. de Montaigne, Essais Band I, II, III. Frankfurt a. M., 1998.
W. Weigand, Michel de Montaigne. Zürich, 1985.
U. Schulz, Montaigne. Reinbek, 1989.
G. Häberlein, Das Präsent-Porträt im Wandel. Stuttgart, 1991.
V. Groebner, Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Mittelalter. München, 2004.